was kinder essen sollen?!

strategien der wissensvermittlung über gesunde ernährung für kinder

von Pauline Nissen

Einführung in die Dimensionen der Mahlzeit

Ich wohne seit etwa drei Jahren in Wilhelmsburg. Bereits bei meinem Einzug ist mir das hohe Aufkommen von Kiosken in dem Viertel aufgefallen. Inzwischen, wenn ich etwas beim Supermarkt vergessen habe oder mir den Weg dorthin wegen einer Kleinigkeit sparen möchte, gehe auch ich ständig schnell nochmal zum Kiosk. Die Kioske hier bieten nicht nur Tabakwaren und Getränke an- von Toilettenpapier, über Süßigkeiten, bis Instant-Nudeln ist alles dabei. Nur frische Produkte werden nicht angeboten, immerhin gibt es dafür diverse Märkte sowie Obst- und Gemüseläden. Ich sehe täglich Kinder in die Kioske hineinlaufen, um sich eine Kleinigkeit zu Essen zu kaufen. Sie zählen die 10 und 20 Cent- Stücke ab, um sich auszurechen, was sie sich leisten können. Eine Packung Instant-Nudeln kostet bei ‚meinem Kiosk‘ von nebenan 50 Cent. Dass dieses Essen kaum Nährwerte enthält, weiß ich. Doch woher weiß ich eigentlich, was gesundes Essen ist, und was nicht? Wer legt in unserer Gesellschaft fest, was insbesondere von Kindern gegessen werden darf und soll?

Durch diese Überlegungen habe ich mich gefragt, ob Kinder, die städtischen Raum aufwachsen, anders essen, und wenn ja, inwiefern. Immer mehr Eltern sind, sobald die Kinder ein gewisses Alter erreicht haben, berufstätig und können dementsprechend nicht für ihre Kinder nach der Schule frisches Essen zubereiten. Grundlage hierfür ist die stetige Divergenz von klassischen Geschlechtererwartungen, sodass immer mehr Mütter berufstätig sind.

„Familie und Beruf miteinander zu verbinden ist heute für den Großteil der Mütter selbstverständlich. Mehr als drei Viertel (79 %) der Frauen mit Kindern bis sechs Jahre geben an, die Berufstätigkeit mache ihnen Spaß / habe ihnen Spaß gemacht und sei ihnen wichtig (75 %).“

Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend: Familienreport 2017. Leistungen, Wirkungen, Trends.

Diese Prozesse haben zur Folge, dass das Außer-Haus-Essen für Kinder eine bedeutendere Rolle spielt, gleichzeitig haben sich intime Fragen von Essgewohnheiten zu Themen der Öffentlichkeit entwickelt.1 Die Dringlichkeit der Diskussion um das Thema der Ernährungsstandards für Kinder zeigt sich in den Medien durch die veränderten Geschlechterrollen und das zunehmend günstige Angebot von Speisen. Kinder, die im städtischen Raum aufwachsen, können schon mit weniger als einem Euro einen Snack unterwegs kaufen. Doch wie führt man Kinder zu einer ausgewogenen Ernährung heran? Ab wann sollten Kinder lernen, wie man frische Lebensmittel weiterverarbeitet?

Lebensmittel sind heutzutage nicht nur Mittel, um den Hunger zu befriedigen. Mahlzeiten, aber auch einzelne Lebensmittel, sind kulturell symbolisch aufgeladen.2 Somit beschäftige ich mich in diesem Beitrag mit dem Wissen um gesunde Ernährung für Kinder und inwiefern sich dieses Wissen in der Alltagspraxis in einer öffentlichen Institution in Wilhelmsburg strukturiert sowie reproduziert.


die Entwicklungen des Forschungsfeldes

Seit dem frühen 20. Jahrhundert haben sich Ethnologen*innen erstmals mit Nahrung im Rahmen der Mahlzeit als Forschungsgegenstand beschäftigt. Die Mahlzeit ist in diesem Fall allerdings nicht mit Nahrung gleichzusetzen. Zunächst wurde die Mahlzeit von Georg Simmel als ein Essen in Gesellschaft definiert, welches diversen Regeln unterliegt.3 Durch eine Ästhetisierung der Nahrungsaufnahme hatten sich Individuen an die jeweiligen Regeln bezüglich des Ablaufes, der Gestaltung sowie des Verhaltens zu halten. Das Ideal der Mahlzeit wurde also über die Bedürfnisse der Individuen gesetzt.4 Simmel hat somit als einer der ersten Forscher*innen die soziale Dimension der Mahlzeit festgestellt. Allerdings fand diese Form der Nahrungsaufnahme ausschließlich in privilegierten Kreisen statt, sodass die Mahlzeit nicht als Alltagspraxis eingeordnet wurde.

Heutzutage können wir jedoch zu jeder Speise sowie Speisesituation forschen, da alle gleichsam relevant sind. Der Mensch ist von Geburt an bezüglich der Nahrungsaufnahme auf Hilfe angewiesen, sodass wir uns vorwiegend auf der Grundlage von kulturell tradiertem und erlerntem Wissen ernähren.5 Angefangen mit der Auswahl, was in unserer Gesellschaft als Lebensmittel klassifiziert wird und was nicht, ist von den jeweiligen Normen und Reglementen abhängig. Diesbezüglich ist auch der Einsatz bestimmter Nahrungsmittel zu den jeweiligen Verzehrsituationen vom kulturellen System abhängig.6
Obwohl sich die Verzehrsituationen in unserer Gesellschaft deutlich informalisiert haben,7 haben die Verzehrsituationen im familiären Kreis oftmals nach wie vor eine erzieherische Funktion, bei denen das Tischverhalten insbesondere von Kindern sozial normiert und kontrolliert wird.8 Ab den 1960er Jahren hat sich durch die Internationalisierung von Speisen das Spektrum der verfügbaren Nahrung stark geweitet, gleichzeitig aber auch das Wissen um Nahrung und dessen Inhaltsstoffe.9 Mit dem zunehmenden Wissen wurde Nahrung stärker mit Gesundheit verknüpft, sodass die Auswahl der Speise, die gegessen wird, von der Fähigkeit abhängt, das kulturelle Wissen um Nahrung sowie eigene Erfahrungen mit der Alltagspraxis der Nahrungsaufnahme zu verknüpfen.10 Dabei hat Timo Heimerdinger die Problematik erkannt, inwiefern das diverse Angebot von Nahrungsmitteln sowie die unterschiedlichen Narrative von gesundem Essen Individuen bei der Auswahl überfordern. Somit wird die Nahrungsauswahl zur „Gewissensfrage“11. Heimerdinger stellt fest, dass die alltägliche Nahrungsaufnahme geprägt ist von präventiven Maßnahmen, um die eigene physische Gesundheit aufrecht zu erhalten oder zu fördern.12 Das vermittelte Wissen um gesunde Ernährung wird prozesshaft angeeignet, indem zunächst Experten*innen ihr Wissen publik machen. Das veröffentlichte Wissen wird anschließend zum Alltagswissen, welches letztlich in der Alltagspraxis inkorporiert angewendet wird.13 Jedoch unterliegt nicht nur das Wissen, sondern auch die Mahlzeit selbst immer einem Wandel, sodass sich ebenso neue Forschungsfelder aufmachen. Die Mahlzeit vereint kulturelle Regelsysteme, Institutionen und soziale Interaktion sowie Distinktion bzw. Inklusion.14


Die Debatte um Ernährungsstandards für Kinder in öffentlichen Institutionen

Im Rahmen von Gesundheitskonzepten im Raum Hamburg habe ich mich zunächst mit der Verbindung von Ernährung und Gesundheit auseinandergesetzt und in diesem Gebiet recherchiert. Durch die Menge an Material, die ich in Form von Online-Zeitungsartikeln sammelte, die sich diskursiv mit den Ernährungsstandards für Kinder in öffentlichen Räumen auseinandersetzten15, bot sich eine Diskursanalyse an.16 Mein Erkenntnissinteresse lag vor allem darin, herauszuarbeiten, wer legitimierte Sprecher*innen im Diskurs sind und wodurch das jeweilige Wissen ratifiziert wird, wer nicht aktiv am Diskurs teilnehmen darf und welche Narrative von gesundem Essen für Kinder vorgestellt werden.

Für eine Analyse zur Ernährung für Kinder in öffentlichen Institutionen habe ich insgesamt zwanzig Artikel gesammelt. Der älteste Zeitungsartikel stammt aus dem Jahr 2013, vorwiegend habe ich allerdings Zeitungsartikel aus dem Jahr 2018 erhoben, um eine Aktualität zu gewährleisten.17 Fünf Artikel beschäftigen sich explizit mit der Ernährung für Kinder im Raum Hamburg, die anderen fünfzehn Artikel beziehen sich auf den Raum Deutschland. Der Diskurs wurde vorwiegend aufgrund der Zahl der übergewichtigen Kinder in Deutschland ausgelöst.18


Wer wird gefragt?

Insgesamt wurden 86 Akteure*innen in der Debatte eingebunden. Die Beteiligten*innen lassen sich in folgende Gruppen einteilen: Politiker*innen, Wissenschaftler*innen, Lehrer*innen und Pädagogen*innen, Eltern, Kinder, Food-Unternehmer*innen und Köche*innen und zuletzt Vereine, Institutionen und Gesellschaften, die unabhängig arbeiten. Von diesen Gruppen nehmen allerdings nicht alle aktiv am Diskurs teil. Der Meinungsaustausch wird vorwiegend von Politikern*innen, Wissenschaftlern*innen, Food-Unternehmern*innen19 sowie von Vereinen, Institutionen und Gesellschaften, darunter vor allem die Deutsche Gesellschaft für Ernährung (DGE) dominiert.20
Pädagogen*innen, Eltern und Kinder werden zwar oft in den Artikeln erwähnt, allerdings werden diese kaum bis gar nicht befragt, sodass diese Gruppen als passive Teilnehmer*innen des Diskurses einzuordnen sind. Die betreffenden Gruppen, die die Konsequenzen der Debatte also vorwiegend tragen21, werden am schwächsten beteiligt, wodurch sich deutliche Machthierarchien feststellen lassen. Bestimmte Akteure*innen werden dementsprechend als Sprecher*innen bevorzugt.22

Als Experten*innen werden vorwiegend Wissenschaftler*innen, darunter Mediziner*innen und Ökotrophologen*innen sowie Vertreter*innen der DGE herangezogen. Allerdings wird jeweils nur kurz der berufliche Hintergrund der Experten*innen vorgestellt. Detailliertere Informationen über die ExpertenÜinnen werden den Lesern*innen nicht vorgestellt.23 Jedoch ist zu beachten, dass das Wissen der Mediziner*innen und Ökotrophologen*innen auf unserem postmodernen nordeuropäischen Wissensstand basiert, welches ins kulturelle Geflecht eingebunden ist.


Welche Narrative von gesundem Essen werden diskutiert?

Ein stark dominierendes Narrativ ist, dass natürliche Nahrungsmittel24 mit gesunder Ernährung gleichgesetzt werden können. Diesbezüglich werden regionale Produkte empfohlen, damit die Distanz zwischen Erzeuger*innen und Verbraucher*innen überwunden werden könne. Auch neuere Ernährungskonzepte wie Bio-Nahrungsmittel, vegetarische und vegane Ernährung werden diskutiert. Auf Kritik stößt auch die religiös bedingte, eingeschränkte Ernährung, insbesondere die Ernährung, die im islamischen Glauben nur den Verzehr von Halal-Fleisch zulässt.
Eine weitere Dimension stellt die Abhängigkeit der Ernährungsweise von der jeweiligen sozialen Klasse dar. Hierbei wird erzählt, inwiefern sich Kinder aus Familien, die wenig soziales sowie ökonomisches Kapital besitzen, ungesünder ernähren und als Folge ein höheres Fettsucht-Risiko aufweisen.
Im öffentlichen Raum kursiert ein diverses Wissen um gesunde Ernährung für Kinder und viele widersprechen sich gegenseitig. Insbesondere durch postmoderne Ernährungsweisen und Internationalisierung von Ernährung beherrschen viele verschiedene Experten*innen-Meinungen das Feld. Doch wie soll man Orientierung in dem Feld finden, wenn es so viele gegensätzliche Meinungen gibt?


Gibt es eRNÄHRUNGS-Standards in öffentlichen Institutionen FÜR KINDER?

Die Deutsche Gesellschaft für Ernährung hat detaillierte Standards bezüglich der Ernährung für Kinder in öffentlichen Einrichtungen formuliert, welche mehrmals in den Zeitungsartikeln aufgenommen wurden. Diese lauten wie folgt:

„Täglich müssen demnach Gemüse und Salat sowie Getreide und Getreideprodukte im Angebot sein, mehrmals pro Woche zudem Obst, Milch und Milchprodukte. Höchstens zweimal pro Woche sollten Kinder Fleisch und Wurst essen, mindestens einmal die Woche Fisch.“ 25

Bei diesen Vorgaben wird über Kinder als Kollektiv gesprochen, individuelle Situationen werden nicht berücksichtigt.
Allerdings handelt es sich bei diesen Vorgaben nicht um Regeln oder Gesetze, weshalb diese nicht zwangsläufig umgesetzt werden (müssen). Somit steht es vielen Institutionen frei, inwiefern das Ernährungsangebot für Kinder gestaltet wird.


Vom Experten*innen-Wissen zur Alltagspraxis

Um nachvollziehen zu können, inwiefern sich das Wissen um gesunde Ernährung in den Alltagspraxen reproduziert, habe ich nach kostenlosen öffentlichen Angeboten für Kinder im Raum Hamburg gesucht, welche einerseits gesunde Speisen für Kinder, aber auch aktive Vermittlungsstrategien im Rahmen der Ernährung anbieten. Nach kurzer Recherche bin ich auf ein Nachmittagsprogramm für Kinder in Wilhelmsburg gestoßen. An dem Angebot können Kinder im Alter von 6-14 Jahren teilnehmen. Jeden Dienstag kochen die Kinder gemeinsam ein Gericht, das bereits im Voraus recherchiert wurde. Jede Woche ist ein anderes Kind für die Auswahl sowie für die Zubereitung des Gerichtes verantwortlich, wobei ein Teil der anderen Kinder und die Leiter*innen selbstverständlich dabei unterstützen. Ich habe am gemeinsamen Kochen zwei Mal teilgenommen, um herauszuarbeiten, welches Wissen über gesunde Ernährung in der Praxis vorherrscht und wie das Wissen als auch die Verarbeitung von Nahrungsmitteln vermittelt wird. Außerdem hat sich gezeigt, inwiefern kulturell tradierte Verhaltensweisen im Rahmen der Mahlzeit in diesem Feld angeeignet und kontrolliert werden. Um besser nachvollziehen zu können, wie das Konzept der Institution entstanden ist und worauf es begründet, habe ich, neben meiner Teilnahme, ein Interview mit einer Mitarbeiterin geführt, die für das Kochen zuständig war. Bei dem Programm wird jedem Kind ein Land zur Recherche zugeteilt, aus dem die Speise stammen muss, damit eine Vielfalt von Speisen ausprobiert werden kann.


Habitus der Kinder

Aus einer Erhebung des Statistischen Bundesamtes geht hervor, dass 60,4 % der Bevölkerung in Wilhelmsburg im Jahr 2016 einen Migrationshintergrund haben. Bei den Bewohnern unter 18 Jahren lag der Anteil deutlich höher mit 78,9%.
Da „unterschiedliche Existenzbedingungen unterschiedliche Formen des Habitus hervorbringen“26, prägt ebenso ein Migrationshintergrund den Habitus eines Menschen. Der Habitus prägt unsere Grundannahmen und klassifizierbaren Praxen sowie unseren Geschmack. Dass die Kinder, die das Angebot des Vereins in Anspruch nehmen, unterschiedliche Erfahrungen und Geschmäcker haben27, hat sich auch während meiner Feldforschung gezeigt. Die Auswahl der zu bereitenden Nahrungsmittel basiert auf den Vorgaben der Eltern oder auch religiösen Autoritäten, da beispielsweise Schweinefleisch gar nicht erst zur Auswahl steht. Stattdessen wird auf Puten-, Hähnchen- oder Lammfleisch ausgewichen, damit alle Kinder, ob religiös bedingte Ernährung oder nicht, von der Speise essen können.28 Sich vegetarisch ernährende Kinder verzichten schlicht auf das Fleisch; sich vegan ernährende Kinder gab es während meiner Feldbesuche nicht in der Gruppe.

Abgesehen von der Auswahl werden die Kinder auch unterschiedlich von Zuhause aus für den Tag versorgt. Eines der Kinder erzählte mir sehr offen bei meinem ersten Besuch von seinem Tag. Dabei stellte sich heraus, dass es an dem Tag noch nichts gegessen hatte- inzwischen war es ca. 16 Uhr.29 Das Nachmittagsprogramm für die Kinder bietet somit nicht nur die erste Anlaufstelle für eine Mahlzeit, sondern dient ebenso dazu, den Kindern ein gutes Verhältnis zu Ernährung zu vermitteln- ob bei potentiellen Fettsucht- oder Magersucht-Risiken.

Die Kinder bringen aber auch unterschiedliche Wissensstände und Kenntnisse mit: „Allein schon der Zugang, viele haben noch nie irgendwas geschnippelt, wollen aber unbedingt mitschneiden (…).“30. Dies bringt aber auch den Vorteil mit sich, dass sich die Kinder auch gegenseitig beim Zubereiten der Speisen helfen können und nicht unbedingt auf die Hilfe der Leiter*innen angewiesen.


die Wissensreproduktion im Alltag

Wie wird Gesundes Essen für Kinder in der Alltagspraxis definiert?

Die Speisen, die bei meinen Besuchen zubereitet wurden, waren von frischen, natürlichen Produkten dominiert. Um möglichst viele Geschmäcker zu treffen, bzw. auch zum Probieren anzureizen, weichen die Leiter*innen gelegentlich von den traditionellen Zutaten und Rezepten ab, sodass auch die Zufuhr von frischen Produkten gewährleistet wird.31
Auffällig war, dass in dem Verein oft vegetarische Gerichte gekocht werden, da die Leiter*innen dem täglichen Fleischkonsum kritisch gegenüberstehen. Außerdem würden die Kosten bei täglichem Fleischkonsum steigen, sodass die gesunde Ernährung auch in Abhängigkeit zu den finanziellen Mittel des Vereins steht. Eine Leiterin erklärte mir in diesem Kontext, inwiefern der Verzehr von Puten- anstelle von Schweinehackfleisch gesünder sei, da der Fettanteil im Fleisch geringer ist.32 Somit wird die Auswahl der Fleischsorten nicht nur mit den religiösen Hintergründen der Kinder, sondern auch mit gesundheitlichen und finanziellen Aspekten begründet.
Als ungesundes Essen werden hingegen Speisen wie Pommes oder Burger definiert. Darüber hinaus sei es gesünder, möglichst abwechslungsreich zu essen.33
Ein weiterer Aspekt von gesunder Ernährung bilden die Portionsgrößen. Während die Kinder sich gegenseitig die Teller mit den zubereiteten Speisen füllen, ist mir bei meinen Besuchen aufgefallen, dass mindestens ein*e Leiter*in bei diesem Vorgang genau zuschaut. Die Leiter*innen sehen ebenso in zu großen Portionen ein potenzielles Gesundheitsrisiko.34
Das Wissen über gesunde Speisen materialisiert sich also in der Auswahl der Produkte, den Objekten zur Verarbeitung der Produkte zu einer Speise und den Objekten, mit denen wir eine Speise zu uns nehmen, denn auch beispielsweise die Größe eines Tellers bestimmt die Menge, die gegessen werden kann.


Soziale und kulturelle Sitten bei der Mahlzeit

Die Partizipation jedes Kindes bildet das Grundgerüst des Angebotes. Aufgrund des Konzeptes, das jede Woche ein anderes Kind für die Auswahl und Zubereitung der Speise verantwortlich ist, wird das Prinzip der Partizipation gesichert. Selbstverständlich ist aber nicht nur das Kind in der Verantwortung, das die Speise zubereitet wird, sondern viele Kinder beteiligen sich an dem Kochprozess. Dabei wird flexibel entschieden, wer welche Aufgabe, je nach Fähigkeit, übernimmt. Auch die Zahl der Kinder, die bei der Zubereitung helfen, ist dabei immer unterschiedlich hoch. Die aktive Teilnahme jedes Kindes ist zudem Voraussetzung, um das Wissen über Zubereitungsmethoden vermitteln bzw. aneignen zu können, was wiederum die zukünftige, freiwillige Mitarbeit fördert, da die Kinder ihre Fähigkeiten nun selbstständig anwenden können.35
Mit dem Vergeben von Verantwortung wird von den Leitern*innen ebenso eine Wertschätzung an die Kinder ausgesprochen, da den Kindern die Möglichkeit gegeben wird, einen Teil selbstständig zu erledigen. Diese Wertschätzung äußert sich vor allem in einem Foto, das von dem jeweiligen Kind- in Kochmütze und Kochschürze gekleidet-, das für die Speise verantwortlich ist, zusammen mit der fertig gekochten Speise gemacht wird. Die Bilder werden im Koch- und Essraum an eine großen Wand gehängt.36 Am deutlichsten hat sich diese Wertschätzung als Mittel zur Motivation am Kochen bei meinem ersten Feldbesuch gezeigt, bei dem das Kind, das für die Speise an diesem Tag verantwortlich war, zunächst aufgrund eines Missverständnisses bezüglich der Termine nicht erschienen ist. Die Leiter*innen haben die Eltern dann telefonisch kontaktiert, sodass das Kind im Verein angekommen ist, als die von ihm ausgesuchte Speise bereits fertig zubereitet worden war. Obwohl das Kind am Kochprozess nicht beteiligt war, wurde auch von ihm ein Foto in Kochmütze und -Schürze gemacht.37

Auch die kulturell tradierte Wertschätzung von Lebensmitteln wird an die Kinder weitervermittelt, indem die Leiter*innen alle übrig gebliebenen Lebensmittel entweder angemessen aufbewahren oder mit nach Hause nehmen, damit Nichts weggeschmissen wird.38 Bei meinem zweiten Feldbesuch haben einige Kinder die Füllung der Teigtaschen nicht beachtet und beim Probieren bestimmte Zutaten nicht gemocht, weshalb diese Teigtaschen dann von anderen Kindern oder den Leiter*innen gegessen wurden. Somit wird auch bei bereits probierten Speisen nichts weggeworfen, gleichzeitig verdeutlicht die Situation, dass keines der Kinder zum Essen der Speisen gezwungen wird. Jedoch werden Anreize von den Leitern*innen gegeben, die Speisen zu probieren, falls die Kinder vor dem Probieren bereits ihre Skepsis gegenüber der Speise äußern.

Zuletzt war die erzieherische Funktion durch die Vermittlung des Verhaltens bei Tisch festzustellen. Bevor sich die Kinder an den Tisch zum Verzehren der Speisen setzen, erfolgt die Verteilung der Speisen in einem geordneten Ablauf, indem sich die Kinder durch verschiedene Methoden in einer Reihe an der Kücheninsel anstellen, auf der die Speisen auf Tellern verteilt werden. Auch das vorherige gemeinsame Decken des Tisches vermittelt den Kindern die kulturell tradierte Speisesituation der Mahlzeit. Weitere Vorgaben, wie das Warten mit dem Essen, bis alle Kinder mit ihrer Speise am Tisch sitzen, bevor sie einen gemeinsamen Tischspruch aufsagen und dann das gemeinsame Essen beginnen, spiegeln kulturell tradierte Methoden der Vermittlung von Tischmanieren wider. Insbesondere der Aspekt der Vermittlung von Selbstkontrolle, d.h. der Regulierung und der Kontrolle des individuellen, gesellschaftlichen Körpers kommt immer wieder zum Vorschein. Diese Prozesse zeigen deutlich, inwiefern die Erziehung zu Tischsitten, ausgehend von einem Macht-Wissen-Regime, durch die Kontrolle des eigenen Körpers bereits im frühen Alter an Individuen vermittelt werden, um präventiv die Gesundheit zu fördern.39


Grenzen

Die erste Grenze des Angebotes bilden die begrenzten Kapazitäten des Vereines und den damit verbundenen Mitteln. Darunter fallen zum einen finanzielle sowie räumliche Kapazitäten. Nicht alle Kinder können jedes Mal am Kochprozess aufgrund der Größe der Küche teilnehmen. Des Weiteren war während meiner Besuche eine der Mitarbeiter*innen für das gemeinsame Kochen zuständig, wobei auch zwei weitere Leiter*innen je nach Bedarf beim Vorgang helfen. Auch ich habe mich direkt am Kochprozess beteiligt, sodass ich öfter mit den Kindern für eine der Aufgaben zuständig war. Bei meiner zweiten Teilnahme haben insgesamt vier Personen (mich eingeschlossen) den Kochprozess geleitet. Bei diesem Besuch habe ich bemerkt, inwiefern ich nicht jede der Fragen, die von den Kindern gestellt wurden, beantworten konnte. Auch die Hilfestellungen konnten an diesem Tag nicht jedem Kind, das bei der Zubereitung geholfen hat, aus Zeit- und Raumkapazitäten sowie den begrenzten Objekten zur Verarbeitung,40 ermöglicht werden.41 So hat sich die Frage gestellt, inwiefern die Leiter*innen an anderen Tagen, an denen evtl. eine*r der Mitarbeiter*innen krankheitsbedingt ausfällt, den Kochprozess gestalten.
Des Weiteren handelt es sich bei den Leitern*innen nicht um Experten*innen z.B. der Ernährungswissenschaften, sodass das Wissen diskursiv geprägt ist und das Wissen, das den Kindern weitergegeben wird, laienhaft ist. Dies hat sich bei meinem ersten Besuch gezeigt, bei dem die zu kochende Speise nicht den Wünschen bzw. Erwartungen gerecht werden konnte.42 Andererseits führt das laienhafte Wissen zu Flexibilität und Freiheiten, die sich positiv auf die Vorgänge auswirken.
Auch in Bezug auf die Vermittlung von Tischsitten hat sich eine Schwierigkeit gezeigt: während die Kinder am Tisch saßen und die Speisen gemeinsam gegessen haben, standen die Leiter*innen und ich an der Küchen-Insel und haben die Speisen im Stehen gegessen.43 Einerseits wird so die Legitimation der Vermittlung von Tischsitten untergraben, andererseits hat sich eine Distanz zwischen Kindern und Erwachsenen ergeben, welche wiederum Machtverhältnisse darstellt.
Zuletzt hat auch der unterschiedliche Habitus der Kinder teilweise eine Grenze dargestellt. Die Überzeugungsarbeit, die manchmal geleistet werden musste, um ein Kind zum Probieren einer Speise anzuregen, entstand aufgrund der von den Kindern bereits gemachten Erfahrungen und das Wissen, das sie vermittelt bekommen haben. Auch die Ess-Gewohnheiten der Kinder stellten eine Grenze dar, denn nach meinem ersten Feldbesuch habe ich auf dem Heimweg, den ich zusammen mit einer Leiterin gegangen bin, folgendes beobachtet:

Als wir in die nächste Querstraße gehen, laufen vor uns zwei Mädchen, die zuvor an dem Programm des Vereins teilgenommen haben. Sie haben sich beim nächst gelegenen Kiosk Instant-Nudeln gekauft und essen diese direkt aus der Packung.44


Das Fazit

Zusammenfassend hat sich also gezeigt, inwiefern zunächst Experten*innen-Wissen diskutiert wird. Hier gibt es zwar genaue Empfehlungen bezüglich der Ernährungsstandards für Kinder, jedoch werden diese Empfehlungen in der Praxis kaum derartig umgesetzt. Dabei spielen sowohl das ökonomische sowie kulturelle Kapital eine bedeutende Rolle bei der Gestaltung des Speiseplans. Bei Kindern ist der Habitus zwar nicht voll erschöpft, jedoch bringt jedes Kind verschiedene Vorannahmen und Erfahrungen mit, sodass es sich anbietet, die Kinder bei der Gestaltung des Speiseplans zu involvieren. Die den Kindern gegebene Entscheidungsfreiheit sowie Verantwortung in dem von mir besuchten Feld hat sich positiv auf die Vermittlung von Wissen zu Nahrungsmitteln sowie deren Verarbeitung ausgewirkt. Jedoch sollten Kinder nicht nur an der Gestaltung des Speiseplans und der Speisen selbst beteiligt sein, sondern auch im öffentlichen Diskurs mehr eingebunden werden. Die Feldbesuche haben mir gezeigt, inwiefern nicht nur einen Bedarf im Bereich der Versorgung mit Speisen sowie der Vermittlung von Speisezubereitungen besteht, sondern derartige Programme notwendig sind. Trotz unterschiedlicher Ess-Gewohnheiten spielt die Verpflegung für Kinder Außer-Haus eine bedeutende Rolle- ob ein Kind die erste Mahlzeit des Tages dort erhält, oder ein Kind angereizt wird, ein neues Nahrungsmittel zu probieren.

Für die Kulturanthropologie bedeutet dies ebenso akteurszentriert zu arbeiten. Jede Speise und Speisesituation ist in das kulturelle Geflecht eingebunden, sodass sie produktive Forschungsfelder darstellen. In diesem speziellen Forschungsfeld könnte ein Vergleich zu anderen öffentlichen Institutionen und deren Prozesse und Wissensreproduktionen spannende Ergebnisse liefern. Ebenso könnte der Fokus auf Selbstaneignungsprozesse von Wissen über Ernährung durch soziale Medien neue Erkenntnisse liefern.


Literatur- & Quellenverzeichnis