am Beispiel der Wissensorganisationsprozesse des Poliklinik Kollektivs im Hinblick auf das SoliPolis Festival
Von Sarah Steidl
In nur wenigen Monaten soll anlässlich des 250. Geburtstags der Veddel vom 15. – 20. September 2018 das von New Hamburg initiierte Festival „SoliPolis“ stattfinden. Innerhalb dieser zwei Wochen soll die Veddel, ein als sozial schwach geltendes Viertel in Hamburg, ein Ort für Theater, Performance, Installation, Musik, Diskurs und Begegnung werden. Innerhalb dieses Rahmens wird die Veddel zur Solidarischen Stadt erklärt. Das Stadtteilgesundheitszentrum „Poliklinik“ auf der Veddel plant für das SoliPolis Festival eine Ausstellung, die die sozialen Determinanten von Gesundheit in den Fokus rückt. In den zwei Wochen des Festivals entsteht ein Ausstellungsraum, den die Poliklinik
„Gesundheitspavillon” nennt.
Das Kollektiv präsentiert anhand von Ausstellungstexten und partizipativen Momenten drei Organe des menschlichen Körpers und bringt sie in Zusammenhang mit gesellschaftlich-krankmachenden Faktoren, die die Gesundheit beeinflussen. Die Ausstellung Herz stellt dar, inwiefern sich chronischer Stress als soziale Determinante auf die Gesundheit auswirkt. Die Lunge veranschaulicht die Auswirkung von Umweltbelastungen auf die Gesundheit und das Auge erzählt, wie im Sehorgan nicht bloß die Abbildung der Wirklichkeit stattfindet, sondern auch Wirklichkeit erschaffen wird. Hierdurch soll eine Verbindung des Einflusses von Rassismus auf die Gesundheit hergestellt werden.1
Seit Anfang des Jahres 2018 laufen die Vorbereitungen des interdisziplinär arbeitenden Kollektivs „Poliklinik“ für die Ausstellung auf dem Festival und ich stecke mittendrin. Über Wochen tauschen sich Poliklinik Mitglieder*innen mit den verschiedensten Disziplin- und Erfahrungshintergründen darüber aus, welche Inhalte für die Ausstellung von Bedeutung sind und somit als Endprodukt während des Festivals im September in die Öffentlichkeit getragen werden. Es geht darum, Gesundheit von verschiedenen Perspektiven aus zu betrachten.
“Ziel unseres Projektes ist es, sich der unterschiedlichen Blickwinkel auf Gesundheit bewusst zu werden, voneinander zu lernen und zusammen ein neues Verständnis von Gesundheit und Krankheit sowie den daraus resultierenden (Be-)Handlungsoptionen zu schaffen.“2
Es geht darum, Wissensressourcen zu teilen, die eigenen Wissensbestände infrage zu stellen und Hierarchien abzubauen, denn man möchte
„neue Sachen lernen. Neue Sichtweisen, neue Argumentationen. Und eigentlich auch […] das weitergeben. Also, dass die Wahrheit komplex ist, letztendlich. Und, dass es da auch viele Zugänge zu gibt und viele unterschiedliche Dimensionen drin, die es wert sind, angeguckt zu werden.“3
Doch welche diskutierten Inhalte fließen am Ende in die Ausstellung mit ein? Immer wieder ergeben sich Spannungen in den Aushandlungen im Kollektiv, wenn Wissen an den Grenzen verschiedener Disziplinen, Erfahrungen und Fähigkeiten verhandelt wird. Wer bringt welches Wissen mit? Wie wird dieses angenommen oder auch bewertet? In welchem Rahmen wird das Wissen miteinander geteilt und verhandelt und was spielt in die Aushandlungsprozesse mit rein? Wann wird Wissen bedeutsam? Welches Wissen wird in die Öffentlichkeit getragen, damit aktiv und kann seine Wirkung entfalten?
In diesem Beitrag beleuchte ich die Aus- und Verhandlung von Wissen im interdisziplinären Kontext am Beispiel der Wissensorganisationsprozesse des Poliklinik-Kollektivs während der Planung der Organ-Ausstellung im Rahmen des SoliPolis Festivals auf der Veddel.
Die Poliklinik und ihr gegenentwurf von gesundheit
Ein interdisziplinär zusammenarbeitendes linkspolitisches Kollektiv bestehend aus Mediziner*innen verschiedener Fachrichtungen, medizinischen Fachangestellten, Psycholog*innen, Jurist*innen, Sozialarbeiter*innen, Politikwissenschaftler*innen, Kulturwissenschaftler*innen und Kommunikationswissenschaftler*innen diskutiert seit 2013 eine alternative Gesundheitsversorgung, die sowohl individuelle Bedürfnisse als auch gesellschaftlich-krankmachende Faktoren in den Blick nimmt. Im Januar 2017 eröffnet das Kollektiv die Poliklinik, ein soziales Stadtteilgesundheitszentrum, auf der Veddel. Hier soll Gesundheit interdisziplinär, individuell und kollektiv verhandelt und behandelt werden.
„Gesundheit ist ein Zustand des vollständigen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlergehens und nicht nur das Fehlen von Krankheit oder Gebrechen.“4
Die Poliklinik schließt sich der weit verbreiteten Definition von Gesundheit der Weltgesundheitsorganisation (WHO) an. Dahingehend wie dieser Zustand erreicht werden kann, stellt sich die Poliklinik allerdings gegen die neoliberale Erzählung von Eigenverantwortung, individuellen Risikofaktoren und Verhaltensprävention, die in den aktuellen Diskursen über Gesundheit vorherrscht. Gesundheit ist für die Poliklinik eine soziale Frage: Über individuelle Verhaltensoptimierungen hinaus, steht sie für eine Verhältnisprävention ein und rückt gesellschaftlich-krankmachende Faktoren (soziale Determinanten von Gesundheit), wie ungleiches Einkommen, Wohnungsverhältnisse (z.B. Schimmel in der Wohnung), Arbeitsbedingungen, Rassismus und Umweltbedingungen (z.B. Industriebelastung) in den Fokus. Dabei übt die Poliklinik eine Kritik am bestehenden Gesundheitssystem und gesellschaftlichen Verhältnissen, wie z.B. sozialer Ungleichheit, aus.
Die alternative Gesundheitsversorgung der Poliklinik und dessen Angebote setzen sich deshalb aus einer Allgemeinarztpraxis mit primärmedizinischer Versorgung, Gesundheits-, Sozial-, Rechts- und psychologischer Beratung, sowie Gemeinwesenarbeit in Form von Gesundheitspräventionsprojekten (beispielsweise Stressmanagement-Seminare oder Anti-Rassismus-Workshops) zusammen. Dabei sollen Entindividualisierungsprozesse angestoßen werden und Problemlagen durch Empowerment und der Schaffung eines Ortes der Solidarität kollektiviert werden (z.B. Schimmel AG). Die Poliklinik macht es sich zur Aufgabe gemeinsam mit dem Stadtteil Strategien zur Verbesserung der Gesundheit und gegen bestehende gesellschaftliche Verhältnisse zu entwickeln. In den Projekten soll es darum gehen gemeinsam ein besseres Verständnis von den sozialen Determinanten von Gesundheit zu entwickeln. Das Anpassen an die Bedarfe der Bewohner*innen und deren Miteinbeziehen und Partizipation ist wichtiger Teil des soziopolitischen Anspruchs der Poliklinik. Die Poliklinik vernetzt sich zudem international mit ähnlichen Projekten und arbeitet mit dem Schwesterprojekt in Berlin zusammen, um gemeinsam einen Gegenentwurf zum bestehenden Gesundheitsverständnis zu verfolgen und voneinander zu lernen.5
Neben dem allgemeinen Praxisbetrieb und den Beratungen arbeiten die Kollektivmitglieder in kleinen Arbeitsgruppen zu verschiedenen Themen zusammen und treffen sich als gesamtes Kollektiv einmal wöchentlich im Großplenum, um sich auszutauschen. In meiner Forschung lege ich den Fokus nicht auf den allgemeinen Praxisbetrieb, sondern auf die Zusammenarbeit des interdisziplinären Kollektivs in Arbeitsgruppen, die im Zuge der Planung der Organ-Ausstellung im Rahmen des SoliPolis Festivals gebildet wurden. Dabei beleuchte ich hauptsächlich die Aushandlungen innerhalb des Kollektivs und nicht die Aushandlungen zwischen Kollektiv und Viertel. Ich möchte hierbei betonen, dass ich nicht Teil der regulären Plenen der Poliklinik war, sondern an den spezifisch für die Organ-Ausstellung gebildeten Arbeitsgruppentreffen teilgenommen habe. Dementsprechend beziehen sich meine Ergebnisse auf die Aushandlungen, die in diesem Rahmen stattgefunden haben und stellen lediglich einen Ausschnitt aus der Poliklinik dar.
Mein Forschungsinteresse bildet sich nach mehreren Wochen teilnehmender Beobachtung heraus. Aufgrund der interdisziplinären Zusammensetzung des Kollektivs und dem Anspruch, Gesundheit aus verschiedenen Blickwinkeln zu betrachten, stellt das Kollektiv Poliklinik ein interessantes Feld dar, um zu untersuchen, wie Wissen entlang der Grenzen verschiedener Disziplinen aus- und verhandelt wird. Vor allem in den Plenen rund um die Planung der Organ-Ausstellung im Rahmen des SoliPolis Festivals verdichteten sich die Momente der Wissensorganisation des Kollektivs und waren somit fruchtbar für meine Forschung. Im Zeitraum von Mai bis einschließlich September 2018 habe ich regelmäßig an den Treffen zur Planung der Ausstellungsinhalte und -gestaltung zum Herz (in Verbindung mit Stress) und zum Auge (in Verbindung mit Rassismus) als soziale Determinanten von Gesundheit teilgenommen. Die Forschungsmethode der teilnehmenden Beobachtung erlaubte mir einen tiefen Einblick in die Alltagspraxis der sozialen Gemeinschaft Poliklinik, in ihr Beziehungsgefüge, ihre Aushandlungsprozesse und ihren sozialen Kontext. In den Planungstreffen habe ich während meiner Forschung aktiv teilgenommen, also auch an den Diskussionen zu Inhalten und Gestaltung der Ausstellung partizipiert und somit mitgewirkt. Dadurch ist meine Forscherinnen- bzw. Beobachterinnenrolle in den Hintergrund gerückt; ich wurde zunehmend zu einer aktiv Mitwirkenden in der Ausstellungsplanung. Diese besondere Involviertheit ermöglichte mir, authentische Beobachtungen der sozialen Prozesse in den Diskussionen zu machen. Durch die Nähe zu den Forschungssubjekten (Mitglieder*innen der Poliklinik) und -objekten (Ausstellungsinhalte), stellte sich mir häufig die Herausforderung, eine kritische Distanz zum Feld zu bewahren. Ich möchte betonen, dass der Forschungsprozess und die daraus resultierenden Ergebnisse nicht losgelöst von der forschenden Person zu betrachten sind. So sind auch in diesen Forschungsbericht meine Person und Erfahrungen mit eingeflossen (weiblich sozialisiert, weiß, 23 Jahre alt, kulturanthropologischer Disziplinhintergrund, linkspolitisch orientiert, Neulings-Status in der bestehenden Gruppe, persönliche Sympathien, etc.).
Nach der Herausbildung meines Forschungsinteresses führte ich, mit einem durch wochenlange teilnehmende Beobachtung geschärftem Blick auf mein Forschungsfeld, insgesamt vier leitfadengestützte Interviews mit Mitglieder*innen des Poliklinik Kollektivs durch, um deren Sichtweisen einzufangen und ergänzendes Material für meine Analyse zu generieren. Mein methodischer Zugang setzt sich damit hauptsächlich aus teilnehmender Beobachtung, der Auswertung leitfadenorientierter Interviews und der Literaturrecherche zusammen.
Die Poliklinik als Community of Practice
Mit dem Ziel eine alternative Gesundheitsversorgung zu schaffen und Gesundheit individuell, kollektiv und interdisziplinär zu denken, schließen sich Menschen mit verschiedenen Disziplin- und Erfahrungshintergründen in einer Gemeinschaft, dem Poliklinik Kollektiv, zusammen. In gemeinsamen regelmäßigen Treffen und Diskussionen möchten sie Gesundheit interdisziplinär denken und entwickeln mit der Zeit eine gemeinsame soziale Praxis, ein gemeinsames Repertoire an Wissen (z.B. soziale Determinanten von Gesundheit), Ideen, Konzepten (z.B. antikapitalistisches Konzept, Stadtteilarbeit-orientiertes Konzept), Artefakten (Ausstellungen, Publikationen etc.), Routinen (z.B. wöchentliche Plenen, AG-Arbeitsweise) etc.. Im Mittelpunkt dieser sozialen Praxis steht die Aushandlung von Bedeutung in der sozialen Interaktion.6 Im Laufe der Zeit entwickelte das Kollektiv durch die andauernde Aushandlung von Bedeutungen in der sozialen Praxis eine gemeinsame Lerngeschichte, die sich zu einer informellen, dynamischen, sozialen Struktur, einer Community of Practice nach Wenger und Lave, bildete.7 Das Poliklinik Kollektiv kann als „Community of Practice“ bezeichnet werden, da sie einen gemeinsamen Interessensbereich (alternative Gesundheitsversorgung) teilen, für den sie sich in einer Gemeinschaft engagieren und in dieser durch regelmäßige Treffen und Diskussionen sozial interagieren und Bedeutungen aushandeln. Dabei lernen sie voneinander und entwickeln eine gemeinsame soziale Praxis, welche die Aushandlung und Akkumulation von Bedeutung in der sozialen Interaktion beinhaltet.8 Die gemeinsamen Plenen stellen einen Ort der Wissensverhandlung und -Aushandlung der Community of Practice dar, innerhalb derer sich die Lerngeschichte des Kollektivs in der gemeinsamen Praxis ständig fortschreibt und dynamisch verändert.9
Innerhalb von Communities of Practice etablieren sich im Laufe der Zeit durch die soziale Lerngeschichte informelle Kompetenzen, deren Besitz Voraussetzung für die Anerkennung als Teil der Gemeinschaft sind, so auch in der Poliklinik. Teil dieser Kompetenz ist das Engagieren in der Gemeinschaft mit dem geteilten Ziel eine alternative Gesundheitsversorgung zu schaffen und die sozialen Determinanten in den Fokus zu rücken. Weiterhin müssen die Mitglieder der Community of Practice die Fähigkeit besitzen, innerhalb des vorhandenen Repertoires an Wissen, Ideen, Artefakten, Routinen etc., welches das Kollektiv in ihrer gemeinsamen Lerngeschichte in der sozialen Praxis angesammelt hat, zu interagieren und dieses für sich nutzbar machen. Menschen, die neu in die CoP Poliklinik Kollektiv dazu stoßen, wie beispielsweise ich und andere Studierende, die ihre Forschung in der Poliklinik durchführen, müssen sich das in der sozialen Lerngeschichte angesammelte Repertoire durch die Teilhabe an der Praxis des Kollektivs, in unserem Falle durch die Teilhabe an Plenen und Diskussionen um die Ausstellung, aneignen, um produktiv in der Gemeinschaft zu interagieren und als Mitglieder*innen anerkannt zu werden.10 Es besteht allerdings auch die Möglichkeit, dass neu eingebrachte Erfahrungen und Perspektiven die Kompetenz verändern, vorausgesetzt, dass diese durch die Community akzeptiert werden.11
Die Poliklinik hat sich eben jenen Erfahrungsaustausch und das Teilen von Wissensressourcen zur Aufgabe gemacht, um Gesundheit interdisziplinär zu denken: Klara12, Politikwissenschaftlerin und Kollektivmitbegründerin, erklärt im Interview, dass es bei einem solchen Projekt, wie der Organ-Ausstellung der Poliklinik, wichtig sei, viele verschiedene Leute dabei zu haben, um nicht auf einer Stelle stehen zu bleiben, sondern verschiedene Blickwinkel zu haben. Deshalb sei es gut, immer wieder andere Meinungen und andere Professionen auf das Projekt schauen zu lassen.13 Die Wahrheit sei schließlich komplex und da gäbe es auch viele Zugänge zu und „viele unterschiedliche Dimensionen drin, die es wert sind angeguckt zu werden.“14
Spannungen in der Aus- und Verhandlung von Wissen: Diskrepanzen zwischen interdisziplinärem Anspruch und dessen Umsetzung
An einem Dienstag Nachmittag im Mai wirft die Sonne ein paar feine Strahlen durch das Dachlukenfenster über der Praxis der Poliklinik. Während wir über die Inhalte der Herz-Ausstellung diskutieren, sind von unten die gedämpften Geräusche des alltäglichen Praxisbetriebes zu hören. An einem runden Tisch versammelt sitzen um mich herum Personen mit verschiedensten Disziplin- und Erfahrungshintergründen: Mediziner*innnen verschiedener Fachrichtungen, Politikwissenschaftler*innen, Kulturwissenschaftler*innen, Sozialarbeiter*innen etc.. Das Wissen soll geteilt werden und man möchte „sich der unterschiedlichen Blickwinkel auf Gesundheit bewusst […] werden, voneinander […] lernen und zusammen ein neues Verständnis von Gesundheit und Krankheit […] schaffen.“15
Immer wieder ergeben sich Spannungen in den Aushandlungen im Kollektiv, wenn Wissen an den Grenzen verschiedener Disziplinen, Erfahrungen und Fähigkeiten verhandelt wird, so auch in den Diskussionen um die Inhalte der Ausstellung während meiner Forschung. Klara erklärt im Interview:
„Also, ich glaube, da gibt es jetzt in Bezug auf die Organe und sagen wir insgesamt, bei all diesen Prozessen, gibt es immer wieder Konflikte darüber, wie man irgendwas machen möchte.“16
Besonders deutlich wurden die unterschiedlichen Bewertungen und daraus resultierenden Spannungen in der Diskussion um die physiologische Komponente von Gesundheit. Konsens war zwar, dass die soziale Determinante von Gesundheit im Fokus der Ausstellung stehen soll, trotzdem war man sich in Bezug auf den Einbezug der physiologischen Komponente (was also genau im Körper passiert, wenn man Stress empfindet) uneinig. Alle Anwesenden ohne medizinischen Hintergrund waren der Meinung, dass die physiologische Komponente in der Ausstellung nicht einbezogen werden müsse, denn diese stehe nicht im Fokus und sei auf der Veddel aufgrund der sprachlichen Barrieren ebenfalls schwer zu vermitteln. Die Vermittlung der physiologischen Komponente sei nicht diejenige, die Menschen dabei helfe ihre Handlungsmacht zu erlangen, wurde argumentiert. Die Mediziner*innen empfanden eine Vermittlung der physiologischen Komponente allerdings unabdingbar. Eine Argumentation hierfür blieb allerdings aus und die Diskussion wurde nach kurzer Zeit von Seiten der Mediziner*innen mit dem Satz beendet, man müsse sich den Teil zur physiologischen Komponente nicht anschauen, wenn sie einen nicht interessieren würde.
Let’s talk about facts
Sophie17, eine studierte Kulturanthropologin mit dem Schwerpunkt der Medizinanthropologie, die erst seit ein paar Wochen dabei ist, bringt an einem anderen Nachmittag während des Herz-Plenums die zuvor nicht artikulierte kulturanthropologische Perspektive in eine Diskussion über verschiedene Assoziationen zum Herzen ein. Man müsse sich Gedanken machen, wie man die Heterogenität auf der Veddel auffangen wolle, da auf der Veddel 70% aller Menschen einen Migrationshintergrund haben würden und man nicht davon ausgehen könne, dass alle unsere westlichen Assoziationen mit dem Herzen teilen würden. Auf Sophies Frage hin, wie die kulturanthropologische Perspektive Eingang in die Ausstellung finden würde, antwortet Oskar18, studierter Mediziner, der schon lange Teil des Kollektivs ist und außerdem die Treffen vorbereitet hat und anleitet: “Kann man diskutieren und dann mal schauen, ob das passt”. Sophie argumentiert daraufhin mit kulturanthropologischen Forschungsergebnissen zu Stress dafür, den Satz „Die Bedeutung von Stress ist je nach Kultur und Individuum unterschiedlich“ mit aufzunehmen, um die Heterogenität auf der Veddel aufzufangen und keine westliche Definition von Stress festzusetzen. Oskar äußert sich daraufhin skeptisch und fragt, ob man denn lieber mit „faktischem Wissen oder märchenhaften Begriffen arbeiten wollen würde“ und merkt an, dass er gerne das Forschungsverfahren und die Methoden hinter den Forschungsergebnissen zugeschickt bekommen möchte.19
In die Ausstellung im September findet die kulturanthropologische Perspektive von Sophie keinen Eingang und ihre Vorschläge werden nicht mit aufgenommen.
Die Spannungen in der Aushandlung von Bedeutung und Kompetenz, die sich in diesen Beobachtungen wiederspiegeln, beschreibt Wenger als festen Bestandteil von CoPs. Nur wer in ihrer/seiner Kompetenz und Verantwortlichkeit von den Mitgliedern ausreichend legitimiert sei, könne die soziale Praxis verändern. Sophie, als neues Mitglied und Kulturanthropologin, trägt eine neue Perspektive ins Plenum herein, die bisher nicht Teil der sozialen Praxis des Kollektivs ist. Ob die hauptsächlich sozial-medizinisch geprägte soziale Praxis des Kollektivs nun um eine anthropologische Perspektive erweitert und somit verändert wird, hängt davon ab, ob diese neu eingebrachte Erfahrung und Kompetenz von der Community akzeptiert wird.20 Genau an diesem Punkt können nach Wenger Spannungen entstehen und Machtdynamiken zum Vorschein treten. Die Macht ist in dieser Aushandlung implizit und informell beschaffen. Sophies Kompetenz und Verantwortlichkeit wird in diesem Treffen nicht ausreichend von den Anwesenden legitimiert und kann somit nicht die soziale Praxis des Kollektivs verändern und um eine anthropologische Perspektive erweitern. Innerhalb der Community of Practice Poliklinik Kollektiv bildet sich somit nach Wenger eine „Economy of Meaning“ heraus, in der einzelnen Deutungen unterschiedlicher Wert zugesprochen wird. Indem die biomedizinische Perspektive im Gegensatz zur kulturanthropologischen Perspektive trotz Diskussion wie selbstverständlich in der Ausstellung vergegenständlicht wird, wird dieser eine höhere Legitimität zu Teil. Dabei kann eine „Economy of Meaning“ nach Wenger nicht nur innerhalb der Community of Practice bestehen, sondern auch in Landschaften von Praktiken. Durch den Ausschluss der kulturanthropologischen Perspektive und der Vergegenständlichung der biomedizinischen Perspektive in der Ausstellung wird die biomedizinische Legitimität auch nach außen hin reproduziert. Nicht zwangsläufig lasse sich nach Wenger eine erfolgreiche Behauptung von Kompetenz innerhalb einer Community in eine erfolgreiche Behauptung von Wissen außerhalb der Grenzen dieser Community, also in der Landschaft, übertragen.21 Was innerhalb Sophies qualitativ arbeitender Community als wissenschaftlich anerkannt wird und eine erfolgreiche Behauptung von Kompetenz darstellt, wird außerhalb der Grenzen dieser Community als “märchenhaft” beschrieben und nicht als erfolgreiche Behauptung von Wissen übertragen.
Die Mär vom “objektiven” Wissen der Biomedizin
Aus historischen Gründen hat das, was die Praktiken produzieren einen unterschiedlichen Wert auf dem „Markt“ des Wissens, wie es Wenger nennt. Ihm folgend, haben manche Praktiken so im Laufe der Zeit eine weitreichendere Fähigkeit entwickelt, Teile der Landschaft einzunehmen. Als Beispiel hierfür ist die Biomedizin zu nennen. Laut Roelcke verfüge die Biomedizin in der “westlichen” Kultur über die alleinige Autorität und das Monopol die Bedeutung von Gesundheit und Krankheit festzulegen. Die Biomedizin stelle die einzige legitimierte Institution zur Ausübung dieser Definitionsmacht dar. Diese habe sich unter historischen Bedingungen entwickelt und machtvoll etabliert. Seit dem späten 19. Jahrhundert werde eine Entwicklung deutlich, in deren Zuge die Medizin und die damit verbundenen Biowissenschaften zu einer dominierenden Deutungsinstanz für die Menschen der “westlichen” Industrie- und Informationsgesellschaften wurde.22 Boeker argumentiert, dass die durch quantitative Wissenschaft legitimierten Mediziner*innen ihr produziertes Wissen als neutral begründete wissenschaftliche „Tatsachen“ darstellen und einen Anspruch auf universelle Gültigkeit formulieren.23 Dabei sei die kulturelle Autorität von biomedizinisch produzierten „Fakten“ wenig reflektiert und die (historische) Konstruktionskomponente medizinischen Wissens sei in der Biomedizin und allgemein in den Naturwissenschaften ein blinder Fleck. Es werde nicht reflektiert, dass die Produktion medizinischen Wissens selbst eine kulturelle Praxis sei.24 Die rein quantitativ arbeitende Biomedizin habe sich zu einer rational begründeten Wissenschaft entwickelt, die die Objektivität und Wertneutralität ihres Wissens beansprucht. Ihre Legitimität stütze sich auf genau diese rational begründeten Prämissen bei der Ausübung ihrer Macht.25 Dabei bewerte die Biomedizin kulturelle und soziale Zeichen als „subjektiv“ und „unspezifisch“, womit diese als nebensächliche Aspekte abgewertet werden.26 Ecks stellt fest, dass ein Machtunterschied zwischen Medizin und Medizinanthropologie unmöglich zu leugnen ist. Er beschreibt die Beziehung zwischen der medizinischen Anthropologie und der Biomedizin als eine durch asymmetrische Macht gekennzeichnete.27 Auch während meiner Forschung erlebe ich Momente, in denen Mediziner*innen anthropologische Ergebnisse ablehnen. Oskar reagiert auf die Vorstellung kulturanthropologischer Forschungsergebnisse mit dem Satz:
„Wollen wir lieber mit Fakten oder märchenhaften Begriffen arbeiten?“
Die kulturanthropologische Perspektive wird nicht in die Ausstellung mit aufgenommen. Das Zitat veranschaulicht, inwiefern der biomedizinischen Perspektive ein objektiver Faktengehalt zugesprochen wird, während die kulturanthropologische Perspektive als nicht-objektiv, unwissenschaftlich oder unfundiert (gar als erfunden: “märchenhaft”) bewertet wird. Die Berufung auf “Fakten” leugnet die (historische) Konstruktionskomptonente medizinischen Wissens.
Es lässt sich resümieren, dass innerhalb der Aushandlung von Bedeutungen im Kollektiv Spannungen auftreten, wenn es darum geht, Gesundheit interdisziplinär zu betrachten. In der CoP Poliklinik Kollektiv bildet sich durch die unterschiedliche Bewertung von Deutungen und Kompetenz in der sozialen Praxis eine “Economy of Meaning” nach Wenger heraus. Den Aushandlungen um Bedeutung ist die historisch bedingte Machtposition der Mediziner*innen inhärent. Diese materialisiert sich durch das Einfließen der biomedizinischen Perspektive in der Ausstellung. Weiterhin wird durch die Vergegenständlichung der biomedizinischen Perspektive in der Ausstellung deren Legitimität im Gegensatz zur kulturanthropologischen Perspektive wiederum nach außen reproduziert. In dieser Arbeit habe ich mich auf die Hierarchisierung verschiedener Disziplinen und Wissen fokussiert. Es steht jedoch nicht zur Debatte, dass in einem solch interdisziplinären Schaffensraum nicht auch noch weitere Hierarchisierungen, z.B. bezüglich Geschlecht, Herkunft, Bildungsstatus, etc. in der Aushandlung von Wissen eine bedeutende Rolle spielen.