Wissenskonstruktionen in politischen Kollektiven – Welche Gesundheitskonzepte werden von der „Poliklinik Veddel“ konstruiert und kommuniziert am Beispiel der Planung und Partizipation am „New Hamburg Festival 2018 – SoliPolis“

Miriam Pridöhl

Gesundheit ist politisch. Gesundheit ist verschieden definiert. Gesundheit ist Wissen. Gesundheit ist Übersetzung?

Es ist umstritten was genau Gesundheit ist1. Offiziell wird sie „weder im Grundgesetz noch im Recht der Europäischen Union“2 definiert. Gesundheit ist abhängig von verschiedenen subjektiven, sozialen, politischen und ökonomischen Faktoren, welches klare Definitionen schwierig macht. Die WHO (World Health Organisation) definierte 1948 Gesundheit als den „Zustand des völligen körperlichen, seelischen und sozialen Wohlbefindens und nicht nur des Freiseins von Krankheit und Gebrechen.“3. Diese Definition weißt ebenso auf die verschiedenen Determinanten von Gesundheit hin und zeigt wie Gesundheitsverständnisse offen für Interpretation sein müssen. Die Offenheit der verschiedenen Verständnisse lässt zu, dass sich die Räume um Gesundheit, und alles was diese betrifft, mit unterschiedlichem Wissen füllen, welches zahlreicher Aushandlungs- und Kommunikationsprozesse bedarf. Des Weiteren verdeutlicht diese Offenheit und vielseitige Determinierung von Gesundheitsverständnissen die Notwendigkeit von politischem Aktionismus in verschiedenen Bereichen des gesellschaftlichen und persönlichen Lebens.

In dieser Forschung habe ich mich mit Wissenskonstruktionen in politischen Kollektiven beschäftigt. Am Beispiel des Stadtteil-Gesundheitszentrums Poliklinik Veddel, trägt die vorliegende Arbeit zu Diskussionen über die Verhandlungen, Konstruktionen und Kommunikation von Gesundheitskonzepten bei. Die Herstellung und zur Verfügung Stellung von Wissen innerhalb politischer Kollektiven ist besonders wichtig für aktive Änderungsansprüche im gesellschaftlichen Diskurs. Im Fokus stehen hierbei das Erreichen von Partizipation verschiedener Personengruppen und Individuen im Prozess der Wissenskonstruktion und die Übersetzbarkeit des hergestellten Wissens auf verschiedene soziale oder individuelle Kontexte. Die Poliklinik in Veddel ist, nach meiner Lesart und anhand ihrer Forderungen und Visionen ein linkspolitisch einzuordnendes Kollektiv von Personen aus interdisziplinären Feldern, welches Einflüsse von sozialer Ungleichheit, Industriebelastung und Wohnverhältnissen in ihr Gesundheitsverständnis integrieren. Anhand der Planung und Partizipation der Poliklinik am New Hamburg: SoliPolis Festival 2018 habe ich diese Wissenskonstruktionen und deren Kommunikation an das Viertel, und mit dem Viertel, erforscht.

Durch persönliche Erfahrung mit der Arbeit in politischen Kollektiven fällt mir immer wieder auf, dass es Probleme bezüglich der Übersetzbarkeit des hergestellten Wissens, welches die Quelle von Änderungsansprüchen ist, gibt. Problemanalysen beruhen oft auf (sozial-)wissenschaftlichen Analysen und Kritiken. Die Verfügung über dieses Wissen verstehe ich teilweise als Privileg und richte deshalb meine Forschung neben der Herstellung des Wissens, auf die Kommunikation dieses Wissens.
Mit der Organisation und Partizipation der Poliklinik am New Hamburg: Solipolis Festival 2018 versuchte das Kollektiv, mit seinem Beitrag „Festival der Organe“, in ein Kommunikationsverhältnis mit dem Stadtteil zu treten, weshalb sich dies als Forschungsfeld eröffnete. Ich befasse mich demnach mit Fragen der Wissenskonstruktion und Deutungshoheit, Übersetzung und Zugangsschaffung, Kommunikation und Partizipation, als politische Ansprüche.

Die Poliklinik Veddel

Das Konzept der Poliklinik

Die Poliklinik Veddel ist ein politisches Kollektiv, welches sich mit verschiedenen sozialen Determinanten von Gesundheit auseinandersetzt und anerkennt, dass soziale und psychische Prozesse sich auf den Körper einschreiben und somit den gesunden oder kranken Körper bestimmen4. Die Poliklinik übt allgemein eine Kritik am Gesundheits- und Gesellschaftssystem, da dieses Ungleichheiten herstellt und reproduziert, welche den Menschen krank machen, und möchte dem eine Alternative in Form eines kollektiven Stadtteilzentrums entgegensetzen, welches mit aktiver Partizipation der Menschen aus dem Stadtteil gemeinsam entwickelt werden soll5. Die politischen Themen bzw. Kritikpunkte der Poliklinik richten sich unter anderem gegen die neoliberale Ausrichtung der Politik und der daraus resultierenden Marginalisierung von bestimmten Personengruppen; die Armutsquote der Stadt Hamburg im Verhältnis zur Millionärsrate, der Gesundheitsprävention als Eigenverantwortung, und Problemfaktoren wie Wohnverhältnisse, Industriebelastung, Rassismuserfahrung und Einkommen6.

Die Poliklinik versteht sich als soziales, kollektives Stadtteil- und Gesundheitszentrum. Sie umfasst verschiedene Funktionsbereiche – von psychologischer Arbeit und Sozialberatung, über ärztliche Praxis und die Errichtung von themenspezifischen AGs wie beispielsweise die Schimmel, Fallbesprechungs- und Schul-AG7. Die drei großen Schwerpunkte sind folglich „primärmedizinische Versorgung, Sozial- und Rechtsberatung, sowie Gemeinwesenarbeit in Form von Präventionsprojekten“8. Dieses Konzept des sozialen Stadtteil- und Gesundheitszentrums möchte die Poliklinik durch aktive Einbeziehung des Viertels erreichen.

Die Veddel

Die Stadt Hamburg bezeichnet die Veddel als ein „multikulturelles Dorf in Insellage“9. Der Stadtteil, als ehemaliges Arbeiter*innenviertel ist 4.4 km2 groß, hat 4.632 Bewohner*innen und setzt sich aus der „Kleinen Veddel“, das Wohngebiet und „Peute“, das Industriegebiet, zusammen10. Das Viertel trägt viel Geschichte, da es für viele Auswander*innen im 19. und 20. Jahrhundert Ausgangspunkt für die Überfahrt nach Nord und Süd-Amerika war. Außerdem haben sich auf der Veddel im Laufe der Zeit viele Arbeiter*innen angesiedelt, beispielsweise aufgrund der Niederlassung des Kupferkonzerns „Aurubis“ und dem anliegenden Zollkanal11. Heute ist die Veddel das Zuhause von jungen Menschen, Familien, Arbeiter*innen und Menschen mit Migrationserfahrung.

New Hamburg: Solipolis Festival 2018

Das New Hamburg: Solipolis Festival fand im September 2018 auf der Veddel statt und war ein Teil des seit 2014 bestehenden „Kooperationsprojekt des Deutschen Schauspielhauses Hamburg und des Ev.-Luth. Kirchenkreises Hamburg-Ost sowie der lokalen Kirchengemeinde im und mit dem Stadtteil Veddel“12. Das Festival setzte sich aus Theateraufführungen, Tanz-Performances, Filmvorführungen, Musikdarbietungen und Konzerten zusammen, und hatte unter dem Motto der „Solidarischen Stadt“ den politischen Anspruch strukturelle  Probleme und Ausschließungssysteme anzusprechen, wie z.B. das Leben von Menschen ohne Papiere, der Alltag auf der Veddel ohne ausreichenden Zugang zu Drogerie und Apotheke, oder die strukturelle Benachteiligung von Menschen mit Migrationserfahrung13.

Die Poliklinik beteiligte sich mit ihrem Projekt „Organe der Veddel – Ein Gesundheitspavillon“. Das Projekt bestand aus zwei vorübergehenden Installationen, welche auf der Wiese zwischen S-Bahn-Station, Durchfahrts-Deich, und der Straße „Am Zollhafen“ auf der Veddel errichtet wurden. Eine der beiden Installationen war der „Gesundheitspavillon“, welcher als Informationsstelle der Poliklinik agierte und auf interaktive Weise und mit gelegentlicher Anleitung von Beteiligten, den Besucher*innen Information über die Zusammenhänge von gesellschaftlichen Verhältnissen und Gesundheit vermitteln sollte.

„Es hängt dort eine Karte vom Stadtteil Veddel mit der Handlungsaufforderung an die Besucher*innen mit Post-its und kleinen Stecknadeln ihre Lieblings-, Entspannungs-, und Stress-Orte zu kennzeichnen und mit Kommentaren zu versehen. Außerdem sollen die Besucher*innen sichtbar machen was ihnen auf der Veddel fehlt. Des Weiteren sind an den Wänden Informationen zu den Themen Stress- und Rassismus-Einwirkungen. Es gibt ein Video auf einem Tablett zum Thema Rassismus und Gesundheit. Außerdem gibt es eine interaktive Station bei der die Besucher*innen sich ein ärztliches Attest selbst ausfüllen dürfen darüber was ihnen Stress bereitet und was sie sich selbst dafür verschreiben würden. Es werden Flyer und Fragebögen auf verschiedenen Sprachen (Deutsch, Albanisch, Englisch, Türkisch, Arabisch)  zur Verfügung gestellt über das Leben auf der Veddel, Vorstellungen über Community und Zuhause und Veränderungsmöglichkeiten. Es sind Personen vor Ort, die auf Fragen antworten und die Karte anleiten. Zusätzlich steht in der einen Ecke ein Schreibtisch überfüllt mit mehr Informationsmaterial und einer Button-Maschine.“14

Die zweite Installation war die „Wellness-Oase“. Ausgestattet mit Tischen, Stühlen, Sesseln und einer Bar mit Getränken, mitgebrachtem Kuchen und Snacks, ist sie als Entspannungsort gemeint. Beide Installationen sollen das Organ „Lunge“ darstellen und sind mit einer Gehfläche aus Holz verbunden15. Das Motto der Installationen ist: „Der Gesundheitspavillon der solidarischen Stadt zum Entspannen und Forschen“16.

Wissenskonstruktionen

Die Poliklinik startete 2015 „mit einer Sozialraumanalyse und Kontaktaufnahme mit relevanten Akteur*innen des Viertels“17. Die Idee war es mit dem Stadtteil zusammen das soziale Stadtteilgesundheitszentrum aufzubauen und zu organisieren. Den theoretischen Hintergrund hierzu bezogen sie aus der Auseinandersetzung mit verschiedenen bereits bestehenden Modellprojekten und den theoretischen Erkenntnissen, auf denen diese aufbauen. Das gesammelte Wissen aus den Erfahrungen der Modellprojekte und den Informationen des Viertels bilden „zusammen mit den theoretischen Grundlagen wie das Primary Health Care-Konzept der WHO und der Theorie der sozialen Determinanten von Gesundheit die Grundlage [des] Konzepts für ein Stadtteilgesundheitszentrum“18. Zur weiteren Informationssammlung gehörte die Teilnahme an der Konferenz „Gesundheit ist politisch – Vom Medibüro zur Poli(t)klinik“ von 2013, als auch der Bezug auf Publikationen des Sonderheftes „Soziale Determinanten von Gesundheit“. Außerdem entwickelte sich ein Schwesternprojekt in Berlin, mit dem die Poliklinik Veddel zusammenarbeitet19. Diese Wissenssammlung und Orientierung an bestehenden Projekten und die Sozialanalyse des Viertels beschreibt die Formation eines Wissensbestandes, in Kritik und Bezug auf andere Wissensbestände, welches sich als Art Gegenbewegung zum vorherrschenden Gesundheitssystems versteht und das Prinzip eines solidarischen Gesundheitswesens verfolgt. Hierbei bezieht sich die Poliklinik auf herrschende Diskurse und Wissen und reagiert mit Gegenwissen.

Im Sonderheft „Soziale Determinanten von Gesundheit“, vom Verein Demokratischer Ärztinnen und Ärzte, in Kooperation mit der Poliklinik Hamburg und dem Verein Solidarisches Gesundheitswesen e.V. herausgegeben, wird kritisch Stellung bezogen zur (Re-)Produktion von Ungleichheiten im deutschen Gesundheitssystem und wie „rein biomedizinische Interventionen“ nicht ausreichen, um eine allgemeine und ausreichende Gesundheitsversorgung zu garantieren20. Die Poliklinik verweist in ihrem Konzept auf dieses Sonderheft und greift manche Inhaltspunkte in ihrer Arbeit immer wieder auf.

Die Poliklinik produziert gewisse „framings“, das bedeutet in diesem Falle, sie bettet bestimmtes Wissen über lokale Verhältnisse in eine weitergefasste Systemkritik. Die Resonanz des „framings“ hängt nicht nur von kulturellen Faktoren ab, sondern auch von den Räumen und den Rollen der Sprecher*innen21. Dieser diskursive Ansatz der Wissenssoziologie betrifft die Kommunikation, z. B. Flugblätter, Symbole, nicht nur als zielgerichtetes Handeln, sondern als Ausdruck einer Identität und damit eines inneren Wissenssystems22. Akteur*innen formen ihre Behauptungen mit Blick auf diskursive Mechanismen: z. B. einen gewissen Anspruch in den jeweiligen Raum zu stellen23.

Fragebogen Poliklinik Veddel 2018

Partizipation

Partizipation wird von Rosenbrock und Hartung definiert als „die individuelle oder auch kollektive Teilhabe an Entscheidungen, die die eigene Lebensgestaltung und die eigene soziale, ökonomische und politische Situation und damit immer auch die eigene Gesundheit betreffen.“24. Eine erweiterte Definition von Partizipation, von Wright besagt, dass „Partizipation […] nicht nur Teilnahme, sondern auch Teilhabe [ist], also Entscheidungsmacht bei allen wesentlichen Fragen der Lebensgestaltung. Dazu gehört die Definitionsmacht, d.h. die Möglichkeit, die (Gesundheits-) Probleme (mit-)bestimmen zu können, die durch Maßnahmen des Gesundheitswesens angegangen werden“25. Hierzu erfordert Partizipation neben individuellen Kompetenzen auch das Vorhandensein von angemessenen politischen, organisatorischen und strukturellen Bedingungen, um gewissen Zielgruppen Partizipation zu ermöglichen26. „Ob und wie weit Menschen aktiv mitwirken können, wenn es um ihre Gesundheit geht, hängt nicht allein von ihren inneren Verhaltensdispositionen ab, sondern auch von ihren materiellen und sozialen Ressourcen und den institutionellen Strukturen“27. Dabei ist es notwendig zu verstehen wer dabei über die Definitionsmacht der als „Problem“ definierten Themen verfügt und was und wie groß der Raum über die zu treffenden Entscheidungen ist28. Die Poliklinik als soziales Gesundheitszentrum mit dem politischen Anspruch der Kollektivierung von Gesundheit versucht dieses Konzept von Partizipation umzusetzen.

T: „Wenn, vor allem wenn es halt, äh, so ist, dass auch ungleiche Machtverhältnisse gibt, also wo man schon sagen kann Institutionen oder Strukturen wie jetzt die Stadt, der Bezirk, Politik oder auch Verwaltung und Eigentümerinnen habe ne ganz andere Machtposition als jetzt Stadtbewohnerinnen. Und da ist die Ressource vor allem, dass man sich zusammenschließen kann und dass man, ähm, auf Netzwerke zurückgreifen kann.“ 29

Das Konzept der sogenannten kritischen und reflexiven Professionalität stellt hier einen passenden Ansatz dar, diese partizipative Praxis umzusetzen.

Kritische Professionalität:

„Der partizipative Ansatz stellt [die] Entscheidungshoheit infrage, denn Klient/innen bzw. Patient/innen sollen bei allen Verläufen (mit-)entscheiden können“30. „Das erfordert ein neues Verständnis von Professionalität, das nicht nur Reflexion über die Qualität der eigenen Arbeit, sondern auch Reflexivität über die Machtverhältnisse in der Gesellschaft, die sich in professionellen Bezügen widerspiegeln, beinhaltet“31. Diese „reflexive Professionalität“ ist „für eine längerfristige partizipative Praxis notwendig“32, da es Machtverhältnisse aufbricht und Wissensräume öffnet und verändert. Dieses Verständnis von Professionalität beinhaltet neben Selbstreflektion auch Wissensreflektion. „Eine kritische Reflexion nimmt soziale Benachteiligung nicht als Merkmal einer Person oder einer Gruppe, sondern als Ausprägung einer gesellschaftlichen Dynamik wahr, zu der die Strukturen des Gesundheits- und Sozialwesens, also auch die Fachkräfte, die in diesen Strukturen arbeiten, (unbewusst) beitragen“33. Die kritische Reflexivität stellt Subjektivitäten in Frage34. Durch Prozesse der kritischen Reflexion werden Räume geschaffen um gewisse gesellschaftliche Strukturen und Zustände zu reflektieren. Die Poliklinik nimmt diesen kritischen Blick in ihr Konzept mit auf, indem sie die sozialen Determinanten von Gesundheit anerkennt und versucht durch regelmäßige Reflektionsprozesse innerhalb der Gruppe, z.B. durch Supervision35, ihre inneren Arbeitsprozesse und ihre äußeren Kommunikations-Prozesse zu hinterfragen. Durch diese Reflektion von Machtverhältnissen wird der reflexiven Praxis eine weitere Dimension zuteil, nämlich die Politische36.

Partizipation stellt Machtverhältnisse in Frage, stellt neues Wissen her, macht dieses flexibel und fluide, bestimmt Diskurse, welche wiederum auf das Individuum und die Gemeinschaft zurückwirken.

S: „Ja und ich fand irgendwie so, ähm, das doch so im Laufe des Festivals viele Leute von der Veddel vorbei gekommen sind und irgendwie mans auch geschafft hat, mit den Leuten ins Gespräch zu kommen und ähm genau. Es war halt nicht .. nicht immer leicht quasi, ähm, dann auch so die Inhalte von unserer Ausstellung zu vermitteln, weils glaub ich schon teilweise auch irgendwie .. ja sehr komplexe Sachverhalte waren und auch viel Text. Aber ich glaube dadurch dass irgendwie immer Leute von uns da waren und ansprechbar waren, war es irgendwie trotzdem einfach so n cooler Ort um mit Leuten ins Gespräch zu kommen, um Leute irgendwie noch mehr auf die Poliklinik aufmerksam zu machen, um auch zu zeigen, hey es ist halt nicht nur ne Artzpraxis, sondern es gibt auch andere Angebote, die wir dort haben… Und ähm … ja also ich glaube so als Fazit würde ich glaub ich sagen wir, ähm, habens auf jeden Fall, äh nicht geschafft, quasi alle Leute im Viertel zu erreichen so. Und wir hätten vielleicht auch irgendwie, wenns kapazitätentechnisch möglich gewesen wäre, irgendwie hätten wir versuchen können, noch mehr wirklich irgendwie Door-knocking zu machen, mehr durchs Viertel zu gehen, weil irgendwie durch Flyer und .. also so durch unsere Werbemaßnahmen, hab ich so das Gefühl, haben wir halt tatsächlich nicht alle Leute erreicht. Aber mit den Kapazitäten, die wir hatten, finde ich irgendwie, haben wir trotzdem was derbe cooles auf die Beine gestellt. Und auch irgendwie so n Bisschen dem Viertel gezeigt, dass wir da sind und dass wir auch Interesse haben. Und auch grade dadurch, dass wir irgendwie auch diese Fragebögen haben ausfüllen lassen und auch diese Veddel-Karte dann, wo die Leute dann selber auch so n Bisschen ihre Wunsch-Veddel mitgestalten konnten und auch sagen konnten so, hey das finde ich scheiße, das finde ich cool so.“37

Fragebogen Poliklinik Veddel 2018

Übersetzung

Übersetzung ist ein zentraler Punkt wenn es um Wissensvermittlung und Austausch, soziale Mitbestimmung, politische Artikulation und kollektive Selbstorganisation geht. Übersetzung ist wichtig in Bezug auf die „Übersetzung von Lebensgeschichten“ und „individuellen Schicksalen in ein politisches Programm …“38. „Die traditionelle Theorie der Übersetzung versteht sich als ein binäres Phänomen: Es gibt zwei Elemente eines Übersetzungsprozesses, einen originalen Text in einer Sprache und seine sekundäre Produktion in einer anderen Sprache.“39. Homi Bhabhas Konzept des „Third space“ hingegen beschreibt einen „Raum der Hybridität“, der „kulturellen Übersetzung“, der „in sich selbst politisch subversiv“ ist und als Verhandlung auftritt40. „Eine emanzipatorische Ergänzung der Politik [ist] nur im Feld der kulturellen Produktion möglich, die der Logik der kulturellen Übersetzung folgt“41. Die binäre Teilung der traditionellen Theorie der Übersetzung, welche stark von Machverhältnissen und Dominanzstrukturen geprägt ist, wird hierdurch aufgelöst. Nach Homi Bhabha muss Sprache als das Auftreten eines konstanten Konfliktzustandes und eines Wandels verstanden werden, der durch die Differenzierungssysteme sozialer und kultureller Bedeutung erzeugt wird42. Übersetzung und Übersetzbarkeit, sei es von politischen Inhalten oder gesundheitlichen/sozialen/rechtlichen Informationen ist somit „entscheidend für ein radikaldemokratisches Politisches“43.

Fragebogen Poliklinik Veddel 2018

Ergebnisse

Wissen, Macht, Partizipation, Sprache bzw. Übersetzung, und deren Zusammenwirken sind zentral, wenn es um die Sichtbarmachung und Veränderung gesellschaftlicher Ungerechtigkeiten geht. Der Gesundheitspavillon am Solipolis-Festival war der Schauplatz dieses Zusammenwirkens.

Aus den beiden Interviews mit Beteiligten des Kollektivs wird eine Machtkritik sichtbar, die durch partizipative Maßnahmen aufgebrochen werden kann. Die Poliklinik stellt mit ihrer Arbeit als Arztpraxis, Sozial-, Gesundheits-, und psychologische Beratungsstelle, Präventionsprojekte und politisches Kollektivräume zu Verfügung für Austausch unter Anwohner*innen und zum Informieren über Rechte im Sozial- und Gesundheitssystem. Dieses Verhältnis ist mit Macht aufgeladen, da die Poliklinik als Anbieter*in dieser Räume und Informationen (Wissen) auftritt, welches eine Gefahr der Entstehung eines paternalistischen (bevormundenden) Verhältnisses darstellt. In vielen Alltagsbereichen liegt ein „paternalistische[s] Verhältnis zwischen Expert/innen und Lai/innen, Ärzt/innen und Patient/innen“ vor. Partizipation löst diese Verhältnisse von Autorität auf und schafft neue Informationstechnologien, die prinzipiell für alle zugänglich sind44. Hierzu ist von den Informations-Anbieter*innen eine kritische Reflektion der Inhalte und der eigenen Position notwendig.

Die interaktiven Angebote im Gesundheitspavillon, wie die gestaltbare Veddel-Karte, die selbstausstellbaren Krankschreibungen oder die Fragebögen über das Leben auf der Veddel waren Methoden um Partizipation der Viertel-Bewohner*innen zu erreichen und dadurch verschiedene Perspektiven, Wünsche, Bedürfnisse zu sammeln und somit ein erweitertes Wissen zu generieren. Durch die Übersetzung der Fragebögen und das Sammeln der verschiedenen Antworten über das Leben auf der Veddel, und die damit verbundenen Vorstellungen über Gemeinschaft und Viertel-Organisation, hätte ein third space im Sinne der „kulturellen Übersetzung“ entstehen können. Hierzu müsste die Auswertung und Weiterverarbeitung der gesammelten Perspektiven beleuchtet werden, welche zum Zeitpunkt meiner Forschung noch nicht stattgefunden hat, bzw. geplant war. Ich glaube durch solche Aktionen kann die Poliklinik ihrem politischen Anspruch und Konzept, soweit ich es verstehe, gerecht werden. Es müssten aber bereits die verschiedenen Perspektiven von verschiedenen Personen in der Zusammenstellung der ausgestellten Themenbereichen vorhanden sein um ein tatsächliches third space zu kreieren.

Ich würde im Vornherein bei der Planung mehr darauf achten das produzierte Wissen mit dem Viertel zusammen herzustellen und die Vorstellungen der Anwohner*innen sichtbar zu machen. Das politische Wissen wird aus verschiedenen Studien und sozial(kritischen) Analysen bezogen, was eine Basis darstellen kann, es müsste jedoch noch mehr mit den Anwohner*innen geteilt und auf den lokalen Kontext angepasst werden, um somit mit gezielten Maßnahmen auf tatsächliche Bedürfnisse einzugehen.

Aus meiner Perspektive habe ich gemerkt, dass es Wissens- und Erfahrungshierarchien im Kollektiv gibt, was denke ich in jeder Gruppe, die sich versucht basispolitisch zu organisieren, vorhanden ist. Darüber müsste mehr reflektiert werden, was auch geschieht über Supervision von Externen und Reflektionstreffen innerhalb des Poliklinik-Teams45. Außerdem müsste mehr über die Team-Zusammenstellung reflektiert werden, in Bezug auf das Vorhandensein verschiedener Perspektiven innerhalb des Kollektivs.

Die Informationen, die im Gesundheitspavillon zur Verfügung gestellt waren, hätten meiner Meinung nach auf leichterer Sprache sein können und/oder zusätzlich auf verschiedene Sprachen übersetzt werden. Übersetzungsarbeit war teilweise vorhanden, durch beispielsweise die Übersetzung der Fragebögen und der Flyer des Poli-Beratungscafés, und durch die Anwesenheit einiger Übersetzungskräfte während des Festivals. Dies könnte aber ausgebaut werden um breitere Partizipation zu erreichen, welches z.B. durch eine breitere Bündnisarbeit und die Einbeziehung von mehreren Individuen, Vereinen und Institutionen auf der Veddel geschehen könnte.

Fragebogen Poliklinik Veddel 2018

Für die Umsetzung der politischen Solidarität ist es wichtig Solidarität als kontinuierlichen Prozess der Übersetzung zu verstehen. Inhalte und Erfahrungen des politischen Handelns müssen vom Universellen ins Konkrete übersetzt werden und umgekehrt, es müssen alte Abgrenzungen reflektiert und verhandelt werden, und neue Zusammenhänge produziert werden46. Übersetzung ist wichtig, wenn es um den gemeinsamen Kampf von Menschen mit unterschiedlichen Privilegien geht – wenn die einen von prekären Lebenssituationen betroffen sind und die anderen für eine Utopie kämpfen. „Paternalismus und Ausschluss sind unvermeidliche Begleiterscheinungen einer solchen Situation und müssen kontinuierlich und stets konkret bearbeitet werden.“47. Daher muss „Übersetzung von Solidarität als ständige Verhandlung von Positionen und Interessen“ verstanden werden48.

Um möglichst viele Menschen, Perspektiven und Problemfelder zu repräsentieren, muss Repräsentation als etwas verstanden werden, dass das Repräsentierte erst schafft49 und deshalb kann das eigentlich nie genug ausgebaut werden. Besonders wichtig ist es, politische Theorie mit konkreten Erfahrungen zu verknüpfen, um die politische Arbeit weiterzuentwickeln50, und durch Kritik „Räume schaffen, in denen die Anderen gehört werden“51, anstatt festgestellte Problemanalysen betroffenen Menschen vorzulegen.

Wissenskonstruktionen, Partizipation, Austausch und Übersetzungsarbeit sind daher wichtige Querverbindungen im Verständnis von Gesundheit als sozial determiniert und politisch. Was „gesund“ bzw. „krank“ macht ist abhängig von persönlichen, sozialen, kulturellen und klassistischen Kontexten und bedarf deshalb einer kontinuierlichen Aushandlung. Gesundheitliches Wissen muss ständig reflektiert, neu kontextualisiert und formiert werden, um die Bildung hegemonialen Wissens und paternalistischen Verhältnissen zu vermeiden. Wissen über Gesundheit und Gesundheitskonzepte müssen sprachlich zugänglich sein und Raum für die Bildung neuen Wissens zulassen.

Quellenverzeichnis