„Das Ohr“ kann mehr als Zuhören –

Eine Forschungsreise im Untergrund

U2 U-Bahnfahrt Emilienstraße Hamburg
Quelle: Eigene Aufnahmen

1. Station: Forschungsprojekt-Straße

Diese Forschungsarbeit befasst sich mit dem Umgang mit mentaler Gesundheit bzw. Krankheit im städtischen Raum. Der Begriff der mentalen Gesundheit bedeutet psychische oder seelische Gesundheit, also einen Zustand, in dem man sich seelisch, aber auch körperlich und sozial, wohlfühlt. In der westlichen Medizin spielt also die Abwesenheit von diagnostizierten psychischen Krankheiten eine maßgebliche Rolle. Da allerdings nicht nur naturwissenschaftliche, sondern auch geisteswissenschaftliche Aspekte Einfluss haben, wird diese Konstituierung an rein biologischen Normen in Frage gestellt 1. Vielmehr liegt der Fokus hierbei auf dem interdisziplinären Ansatz dieses Forschungsfeldes und soll aufzeigen, welche Faktoren auf mentale Gesundheit einwirken und wie sie zusammenwirken 2.

Die Fragen, wie sich der Umgang mit dem Forschungsobjekt „Das Ohr“, einem Zuhör-Kiosk, in der Alltagspraxis im Hinblick auf mental-gesundheitliche Aspekte gestaltet, welche Rolle diesem Objekt in gesellschaftlicher, sozialer und kultureller Hinsicht zukommt, stehen im Vordergrund.

2. Station: Platz des Forschungsstands und -felds

Der Forschungsstand besagt, dass psychische Krankheiten ein multifaktorielles Geschehen darstellen,3 sodass kulturelle, soziologische, psychologische, biologische und gesellschaftliche Aspekte berücksichtigt werden müssen 4 und so die Dringlichkeit der Zusammenarbeit verschiedener Disziplinen gefordert wird. 5 Das Potenzial ist wegen der oftmals einseitig biomedizinischen und Individuum-zentrierten Herangehensweise noch nicht ausgeschöpft,6 obwohl soziokulturelle und gesellschaftliche Faktoren zunehmend an Aufmerksamkeit gewinnen.7 So sollte die Bedeutung des psychotherapeutischen Denkens, das zur Behandlung und Prävention von mentalen Krankheiten dient, durch stadt-/raumsoziologische und sozialpsychologische Variablen erweitert werden. Auch der Raum, in dem sich mentale Gesundheit konstituiert, in diesem Fall der städtische Wohnraum, stellt einen relevanten Faktor für das psychische Wohlergehen dar.8 Mehr als die Hälfte der Weltbevölkerung lebt in Städten und der Zusammenhang zwischen erhöhtem Risiko psychischer Krankheiten und dem Leben in diesen gilt als erwiesen.9 Infolgedessen ist die Verknüpfung von Urbanisierung und mentaler Gesundheit bzw. Krankheit von bedeutender Relevanz in diesem interdisziplinären Forschungsfeld.10 Als Beispiel wird hier immer wieder von sozialer Verwahrlosung in städtischen Nachbarschaften gesprochen, die durch unterschiedlichste Faktoren beeinflusst wird.11 In dieser Forschungsarbeit können allerdings nur diejenigen Aspekte aufgedeckt werden, die im Zusammenhang mit dem Zuhör-Kiosk stehen und auf interaktive und intervenierende soziale und nicht-medizinische Herangehensweisen abzielen.

Im Folgenden wird das Forschungsobjekt kurz vorgestellt:

  • Name: Das Ohr
  • Beginn: Anfang 2018
  • Ende: offen
  • Öffnungszeiten: Montag bis Freitag 15h-18h, Dienstag und Mittwoch schon ab 12h
  • Gründer: Christoph Busch, Hör- und Drehbuchautor
  • Beteiligte: Gruppe an ZuhörerInnen
  • Ort: ehemaliger Kiosk/Glaskasten auf dem U-Bahnsteig der Hamburger U-Bahnhaltestelle Emilienstraße in Eimsbüttel
  • Finanzierung: Herr Busch, Spenden
  • Idee: Alle, die möchten, können kostenlos vorbeikommen und etwas, was sie loswerden möchten, erzählen, da Christoph Busch daraus ein Buch schreiben möchte
  • Aktivitäten: Zuhören und Sprechen, Gespräche werden mit Einverständnis auditiv aufgenommen
  • Entwicklung: Anlaufstelle als „Stopp im Alltag“, um etwas, das man „auf dem Herzen hat loszuwerden“
  • Website: https://zuhör-kiosk.de

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3. Station: Theoretische Ansatzbrücke

Das oben erwähnte soziale Verwahrlosen in Großstädten resultiert aus Fehlen von sozialem Austausch, sodass sich zwar viele zwischenmenschliche Begegnungen, aber wenige Beziehungen im Alltagsleben manifestieren.12 Von großer Bedeutung ist es diesen Kontext für die gesellschaftliche Realität zu erschließen, da es sich auf die mentale Gesundheit auswirken kann.13 Denn das Bedürfnis nach sozialem Austausch ist im Menschsein verankert und kommunikatives Handeln bildet das Sozialisationsmedium der Menschen in Gesellschaften.14 Durch die hohe Anonymität und die ausbleibenden nachbarschaftlichen Strukturen in Städten kann dieser mental-gesundheitliche Aspekt der Kommunikation gestört sein.15 An dieser Stelle greift auch die Theorie in der Medizin. Kommunizieren bildet ein grundlegendes Charakteristikum von psychischer Gesundheit, wozu Faktoren wie Empathie, freundliches Klima, Authentizität, verbale und nonverbale Fähigkeiten, Zuhören, Schweigen können, Anregen zu Fragen, Menschenkenntnis etc. zählen. Das Wirken von zwischenmenschlichen Interaktionen steht hierbei im Vordergrund.16

In unserer modernen Gesellschaft scheint zudem die Subjektivierung von (präventiven) Gesundheitspraktiken zuzunehmen,17 sodass das präventive Selbst individuelle Handlungsmöglichkeiten ergreifen muss, um in dieser Gesellschaft gesund zu werden oder zu bleiben.18 Außerdem werden psychische Erkrankungen bis heute noch tabuisiert, sodass die Verantwortung für die eigene Gesundheit beim Individuum selbst liegt.19 Um den dadurch notwendigen Zugang zu Ressourcen zu schaffen und die Möglichkeit auf die eigenen gesundheitlichen Bedingungen Einfluss nehmen zu können, manifestieren sich vermehrt in Großstädten Konzepte von Interventionen. 20 Solche Interventionen tragen hohes Potenzial in sich, selbstverantwortlich zur mentalen Gesundheit beizutragen.21 Wie genau diese Interventionen aussehen und wie sie (präventiv) wirken, ist durch den weitgefassten Begriff von psychischer Krankheit/ Gesundheit schwer festzumachen. Am Beispiel des Zuhör-Kiosks „Das Ohr“, welches nicht umsonst diesen Namen trägt und somit auf den Zweck des Projektes verweist, soll der Umgang mit solchen Gesundheitspraktiken im Alltag aufgedeckt werden.

4. Station: „Das Ohr“-Forschungsdesign-Allee

Um dem Vorhaben gerecht zu werden, musste bei dem Forschungsverlauf beachtet werden, einen (stetig im Hinblick auf die Interessen der Betroffenen schützenden) Krankheitsbegriff zu verwenden.22 Das sensible Feld lässt sich durch den Raum, in dem sich AkteurInnen bewegen, rahmen. Auch die Alltagspraxis und Erfahrungswelten der AkteurInnen können durch Einbezug von thematischen Aspekten aufgedeckt werden.23 Außerdem wird diesbezüglich in dem Abschnitt auf die Vorgehensweise sowie Methodenwahl eingegangen.

Blick in den Kiosk Quelle: Eigene Aufnahmen

Zwischenstopps

4.1. Der Raum des Forschungsfeldes

Das Feld kann sich in den städtischen Raum, der öffentlich und für jedermann betretbar ist, eingliedern, da es sich um einen ehemaligen Kiosk auf einem U-Bahnsteig handelt. Die hohe Fluktuationsrate der Menschen an diesem Ort scheint ein instabiles Bild für dessen Reichweite abzuleiten. Allerdings begeben sich oftmals diejenigen an diesen Ort, die sich in der Umgebung aufhalten oder wohnen, sodass sich dieses Bild verflüchtigt. So ist die Aufenthaltszeit eine kurze, die Häufigkeit des Aufenthalts oftmals eine hohe. Auch die umfunktionierte Sinngebung des Glaskastens, die durch das äußere Erscheinungsbild sichtbar wird, zieht die Blicke auf sich. Außerdem fällt auch durch unterschiedliche Artikel, Podcasts, Videos und andere Beiträge in medialen Räumen die Aufmerksamkeit auf diesen Zuhör-Kiosk. Diese Aspekte wurden in der Forschungsarbeit berücksichtigt und bilden den Rahmen für die Analyse.

4.2. AkteurInnen im Forschungsfeld

Das Forschungsfeld wird auch durch die auftretenden AkteurInnen bestimmt. Von zentraler Bedeutung ist der Gründer dieses Zuhör-Kiosks. Der Hör- und Drehbuchautor Christoph Busch lebt seit 30 Jahren in Hamburg (Eimsbüttel), wo sich der Zuhör-Kiosk befindet, sodass ein direkter Bezug von Akteur zu Hamburg besteht. Durch verschiedene Jobs (Taxifahrer z.B.) sammelte er Lebenserfahrung und erlangte nach eigenen Angaben große Menschenkenntnis. Aus seiner Intention heraus wurde dieser Ort dafür ins Leben gerufen. Obwohl er selbst von Geburt an taub auf dem rechten Ohr ist, funktioniert er als „Ohr“. Das Projekt entwickelte sich stetig weiter, da zunächst unklar war, wie lange dieses Vorhaben existieren würde. Die ursprüngliche Idee, aus Geschichten der Menschen, die vorbeikommen, ein Buch zu schreiben, wandelte sich. Der Zuhör-Kiosk weist weitere AkteurInnen auf. Zwecks hohen Andrangs von erzählenden Menschen erweiterte er den Kreis der unbezahlten ZuhörerInnen. Nun lauschen den Worten der Erzählenden mehrere Menschen zu unterschiedlichen Zeiten, je nach Verfügbarkeiten. Ausgewählt wurden diese etwa zehn „ganz verschiedenen“, wie er sagt, ZuhörerInnen von Christoph Busch selbst. Durch Schneeballeffekt hatte sich rumgesprochen, dass nach Zuhörenden gesucht wird. Es gibt keine Vorgaben, wie sich das Gespräch entwickeln oder abgehalten werden soll. Jeder/jedem der ZuhörerInnen ist es selbst überlassen wie sie/er damit umgeht. Angemerkt sei bloß, dass sich viele der hinzu gekommenen ZuhörerInnen im Rentenalter befinden, wie Herr Busch selbst auch. AkteurInnen auf Seiten der Gesprächssuchenden sind schwer zu generalisieren, da jeder vorbeikommen und mit „dem Ohr“ sprechen kann. Aufgrund dessen und weil demografisch nichts festgehalten wird, teilweise auch aus Gründen der Anonymität, ist es schwierig ein Bild wiederzugeben. Laut Herrn Busch gibt es wenige spontane Besuche. Die Leute würden sich die Zeit nehmen und sich überlegt haben vorbeizukommen, oder gar im Voraus einen Termin vereinbaren. Es sitzen sich somit zunächst „Fremde“ gegenüber, wenn in diesem Zuhör-Kiosk kommuniziert wird. Informationen zu Erzählenden lassen sich nur insofern beschreiben, dass es offensichtlich Menschen sind, die das Anliegen haben zu sprechen. Das Bedürfnis des zwischenmenschlichen Kontakts in Form eines Gesprächs ist somit gegeben und wird dadurch untermauert, dass der Kiosk fortbesteht. Einen weiteren Akteur in diesem Feld stellt die Presse dar, die Informationen zu dem neuartigen Konzept eines Zuhör-Kiosks verbreitet. Der Ansturm nach Eröffnung war groß und hält nach wie vor an.

Nicht außer Acht gelassen werden sollte auch die Rolle, die mir als Forscherin in diesem Feld zukommt. Da sich der Feldzugang als leicht gestaltete, sollte auch beachtet werden, inwiefern die Rolle des Forschers das Feld verändert. Aus selbstreflexiver Sicht ist anzumerken, dass alleine durch die geführten Interviews eine entsprechende Nähe zum Feld entsteht, da auch unsere Unterhaltungen auf zwischenmenschlicher Kommunikation basierte. Dies lässt mich jedoch auch einen Eindruck davon erhaschen, wie es sich wohl als derjenige anfühlt, der sich Herrn Busch anvertraut, auch wenn die Rollenverteilung des Zuhörers und des Erzählenden verflochten waren. 

4.3. Themenbereiche des Forschungsfeldes

Zu dem Forschungsfeld des Zuhör-Kiosks zählen auch die thematischen emotional behafteten Aspekte, die im Kiosk besprochen werden. Eine genaue inhaltliche Analyse ist in diesem Forschungsdesign aufgrund der Feld-Sensibilität nicht möglich. Außerdem beschränkt sich diese Ausarbeitung lediglich auf das Sichtbarmachen von Strukturen im alltagspraktischen Umgang. Offensichtlich ist zunächst, dass das Interesse besteht Zuhören und Erzählen zu wollen. Dieser Austausch mag oftmals nur einmalig sein, kann sich aber zu weiteren Gesprächen entwickeln. Die Intentionen der Menschen, die sich den ZuhörerInnen anvertrauen, sind offenbar von unterschiedlicher Natur, wie Herr Busch erläuterte. Für Herrn Busch war zunächst das Ziel des Verfassens eines Buches über die Geschichten der Menschen im Vordergrund. Als er bemerkte, dass diese Geschichten erzählt werden wollten und auch ihn als fühlendes Individuum beeinflussten, wandelte sich der Umgang in der Alltagspraxis mit dem Kiosk hin zu einer Anlaufstelle, um Probleme und andere Erfahrungen zu teilen.

4.4. „Das Ohr“ als ideales Forschungsfeld?

Quelle: Eigenes Schaubild

4.5. Vorgehensweise und Methoden

Im Folgendem befindet sich ein Zeitstrahl, der die Vorgehensweise, die Wahl und den Zweck der Methoden offenlegt.

Quelle: Eigenes Schaubild

5. Station: Ergebnisorientiertes Tor

Dieser Abschnitt befasst sich mit den aus den Kategorien gewonnen Ergebnissen zu den beschriebenen Fragestellungen hinsichtlich der Alltagspraxis im mental-gesundheitlichen Forschungsfeld.

Anhand der Kodierung des Forschungsmaterial konnten erkenntnisorientierte Kategorien gebildet werden. Die erste Kategorie umfasst Ergebnisse, die aus der speziellen Örtlichkeit des Zuhör-Kiosks resultieren. Die zweite Kategorie behandelt AkteurIn-bezogene Erkenntnisse, während die dritte Gruppe Erkenntnisse der Beziehung zwischen den AkteurInnen zusammenfasst. Dieses Konstrukt bietet die Möglichkeit, auf interpretativer Ebene Erkenntnisse zu gewinnen. Im Anschluss erfasst, rückgreifend auf behandelte Theorieansätze, die Kategorie der mental-gesundheitlichen Faktoren die Feststellungen, die besonders ausschlaggebend für die Forschung sind. Diese beinhalten vor allem Hinweise auf den alltagspraktischen Umgang mit mentaler Gesundheit.

Die Ergebnisse wurden aus dem gesammelten Forschungsmaterial wie Interviews, Feldbeobachtungen, -protokolle und -tagebuch gewonnen und werden somit daraus zitiert.

Zwischenstopps

Interview mit Herrn Busch vom 05.11.2018

5.1. Ortsbezogene Zusammenhänge

Dadurch, dass sich der öffentlich zugängliche Glaskasten in einer Hamburger U-Bahn-Haltestelle befindet, ist die Hauptbeschäftigung das Ein-, Aussteigen und Warten. Deshalb findet ein ständiger Wechsel der Personen statt, die diesen Zuhör-Kiosk in ihrem alltäglichen Tagesablauf begegnen. Zwar wirbt das Projekt „Das Ohr“ mit Plakaten und Informationszetteln, dennoch kann durch das äußere Erscheinungsbild dessen Funktion nicht sofort eingeordnet werden. Daher scheint das Interesse der Vorbeigehenden groß zu sein, was sich dadurch bemerkbar macht, dass sie neugierig stehen bleiben und die Blicke sich darauf wenden. In den Schaufenstern der „Experimentier-Bude“ finden sich Fotos, Bilder und Skulpturen wieder, die dennoch nicht dessen Konzept offenlegen. Somit erweckt dieses Unbekannte, „Geheimnisvolle“, die Neugier. Diese Aufmerksamkeit ist nicht bei allen zu erkennen, da sie mit anderen Dingen beschäftigt sind. So kann gesagt werden, dass der Kiosk sich unscheinbar in das Bild der Haltestelle eingliedert, aber durch dessen Unklarheit neugierig macht. Dieser feste Ort, verbindet Zugänglichkeit und Erkennungsmerkmal mit der zu wahrenden Anonymität dort. Trotz der Glasfronten, können Erzählende durch eine Trennwand und Vorhänge für Außenstehende unerkannt bleiben. Diese Anonymität wird auch durch die hohe Fluktuationsrate des Ortes gewahrt. Beschrieben wird diese Lokalität im Zusammenhang mit dem Leben in der Stadt als „urbanes Ding“, was auch durch „Reaktionen darauf“ ersichtlich wird. Die Präsenz und der Zugang sind gegeben und beeinflussen auch den alltagspraktischen Umgang mit diesem.

5.2. Handelnde AkteurInnen

AkteurInnen sind ZuhörerInnen, Erzählende, aber auch Medien, die in der Öffentlichkeit ein bestimmtes Bild des Zuhör-Kiosks reproduzieren. Eingeordnet wird dieses Konzept z.B. in der Psychologie-Abteilung der „Bild der Frau“, obwohl Herr Busch sich selbst niemals als Therapeuten oder Ähnliches beschreiben würde. Im Gegenteil: Er betont, dass er kein „Therapeut, Pastor oder vom Arbeitsamt“ sei. Herr Busch beschreibt, dass er viel über Gefühle lerne, zuhöre und beobachte. Seine Idee ein Buch zu verfassen sei nun hintangestellt, da er durch hohen Andrang kaum Zeit dazu habe. ZuhörerInnen spenden Zeit, hören zu und reagieren auf die Geschichten der Menschen anhand eigener Erfahrungen. Der Gründer bemerke, wenn Menschen etwas erzählen, hinter dem sich ein anderes Anliegen verbirgt. In diesen Fällen hake er nach und schaue „was sich hinter dem Vorhang verbirgt“. Auch er hat sich einen alltäglichen Umgang angeeignet, der seine Selbstwahrnehmung und Wahrnehmung von anderen Menschen beeinflusst.

Das kostenlose Anvertrauen und in-Interaktion-Treten der BesucherInnen sei wohlüberlegt. Laut Herrn Busch seien die Geschlechter- und Altersverteilung ausgeglichen. Unterschieden wird in potenzielle ErzählerInnen und diejenigen, die den „Mut fassen“ sich anzuvertrauen. Meist seien die Besuche vorab per E-Mail angekündigt, sodass er die Sprechzeiten organisieren kann. Zudem bestehe das Interesse einer Pastorin, dieses Konzept unter gleichem Namen in Berlin zu übernehmen. Dies erweckt den Anschein der Notwendigkeit in Großstädten nach solch einem Konzept, das von unkonventionellem fast ehrenamtlichen Charakter zeugt.

5.3. Beziehungen zwischen AkteurInnen

Diese Kategorie beschreibt zusammengefasst die Zusammenhänge zwischen den AkteurInnen des Zuhör-Kiosks. Ein Augenmerk wird auf die Begegnung von „zwei Fremden“ gelegt, bei der Herr Busch für kurze Zeit in die Rolle des „besten Freundes“ schlüpfen kann. „Da haben wir auch so eine Nähe, also verbale“, sagt er, sodass in kürzester Zeit unter außergewöhnlichen Umständen eine Beziehung aufgebaut wird. Aus den Begegnungen kann aus mehrmaligeren Treffen „sowas wie Freundschaft“ entstehen, in der man „per Du“ ist. Die Grundlage bildet das persönliche Gespräch, das aus einem konkreten Anliegen heraus entsteht. Herr Busch beschreibt, dass auf „menschlicher Ebene Konfrontation nötig“ sei und er ein „generelles Unwohlsein mit Zwischenmenschlichkeit“ vermerkt. Die Gespräche seien unterschiedlicher Natur. Themenbereiche wie (Un-)Glück, Spiritualität, Beruf und Familie würden angesprochen. Außerdem entstehe eine Verbundenheit, da beide in dieser Situation ein „Experiment wagen“. Da nichts Vergleichbares vorzufinden sei, würden Entschlusskraft und Mut eine Rolle in dieser Situation spielen, um sich in die Situation zu trauen. Weiterhin täte es den Leuten gut sich zu öffnen und das loszuwerden, was sie sich sonst nicht trauen. Das von Herrn Busch bemerkte Gefühl der BesucherInnen sei Dankbarkeit und Zufriedenheit. Auch die Intention, dass „sie sich etwas davon versprechen“ spielt in dieses Wirken mit ein. Zudem käme es vor, dass bei den Gesprächen manchmal „etwas explodiert“. Dies untermauert das Verlangen nach zwischenmenschlichem Austausch.

Nach nun längerem Bestand zeichne sich ein integrierter Umgang der Menschen mit dem Kiosk ab, da sie lächeln oder sich freuen, „den komischen Vogel“ zu sehen. Die anfängliche Verwunderung weicht einer Akzeptanz oder Anerkennung. Medial erkennbar ist diese durch lobende Worte wie auch die Nominierung für den Nachbarschaftspreis der nebenan.de-Stiftung. Dies verweist auf eine Reproduktion eines positiven Bildes des Zuhör-Kiosks, das den Umgang mit diesem beeinflusst.

5.4. Mental-gesundheitliche Aspekte

Alle forschungsrelevanten Aspekte, die im Weiteren beschrieben und analysiert werden, verfolgen das Ziel, den Zusammenhang zwischen dem Umgang der AkteurInnen mit dem Zuhör-Kiosk und dem interdisziplinären Forschungsgebiet zu kennzeichnen. 

Da der Zuhör-Kiosk nicht aus gesundheitspolitischen Gründen oder einer Institution heraus entstand, entwickelte sich der gesellschaftliche Zweck erst kontextuell über die Zeit. Die Anonymität, die bewahrt wird, spielt eine tragende Rolle. Sie vereinfacht es den Menschen bei sensiblen und auch tabuisierten Themen wie mentaler Gesundheit einen Zugang zu präventivem Handeln zu schaffen. Ansonsten würde das Konzept nicht so einen beachtlichen Zuspruch generieren. Auch die Distanzierung von professionellen medizinisch-therapeutischen Praktiken vermittelt eine zugänglichere Art über Dinge zu sprechen, die sich mental-gesundheitlich auswirken können. Den ZuhörerInnen wird Vertrauen entgegengebracht, womit ihnen eine (gesellschaftliche) Verantwortung zugesprochen wird, mit der sie umgehen müssen. Aus nicht-therapeutischer Position ist es ihnen außerdem möglich, Dinge zu sagen, „die ein Therapeut nie aussprechen würde“. So gewinnt deren Tätigkeit einen Wert, den es in einen gesellschaftlichen Kontext zu setzen gilt.

Broschüre/Aushang Quelle: Eigene Aufnahmen

6. Station: Diskussionsgasse

Das Zuhören scheint von besonderer Bedeutung in unserer modernen, von Subjektivierung geprägten Gesellschaft zu sein. Als „Experimentier-Bude“ scheinen die sozial konnotierten Normen von Tabuisierung hier nicht zu greifen, da sich die AkteurInnen auf unbekanntes Terrain begeben. Das Konzept des „Ohrs“ erweist sich als erfolgreich. Angesprochen werden psychische Belastungen, die sich in der schnelllebigen städtischen Gesellschaft ausdifferenzieren.24 So kann dem Zuhör-Kiosk durchaus der Wert einer Art Seelsorge zugesprochen werden. Die Legitimation für dieses Vorhaben lässt sich durch die hochfrequentierte Inanspruchnahme der Menschen, die ihre Geschichten erzählen und als präventives Selbst handeln, offenlegen. „Das Ohr“ lässt sich als Intervention, eine nicht-medizinische Schnittstelle, beschreiben, da es eine Möglichkeit bietet, sich positiv auf die mentale Gesundheit der Menschen im städtischen Raum auszuwirken. Wie sich diese Auswirkungen im täglichen Leben manifestieren, lässt sich schwer festmachen. Dass sie etwas bewirken, kann jedoch gesagt werden. Folglich sollte dem Wert der Tätigkeit des Zuhörens mehr beigemessen werden. So auch Konzepten und Projekten, die interventiv auf gesundheitliche, insbesondere auf mental-gesundheitliche Faktoren Einfluss haben können, um eigenverantwortlich und ohne große Hindernisse für sein Wohlergehen handeln zu können.

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Quellenverzeichnis

von Kim Chanel Winterhalter