Selbstbestimmt Wohnen mit Rollstuhl

von Aileen Rausch


Abb. 1 – selbstbestimmt mit Rollstuhl1



„[…] Was die mir die da alles geraten haben, ging alles nicht,

wollt alles nicht, keine Lust.  

Da muss man sich selbst drum kümmern, wenn man kann. […]“2




1. Einleitung

So heißt es doch immer wieder, der Mensch handelt selbstbestimmt nach seinem eigenen Willen. Es ist die Idee, dass

„trotz aller konstitutiven Eingebundenheit des Menschen in die Natur und in eine Gesellschaft es letztlich doch immer der einzelne Mensch ist, der sein Leben nach seiner eigenen Einsicht führen muss.“3

Doch ist diese Entscheidungsfreiheit für jedes Individum gleichermaßen zu erlangen? Ich versuche dieser Frage nachzugehen, indem ich meinen Fokus in dieser Arbeit auf die Gruppe der Personen im Rollstuhl richte, genau genommen rund um das Thema „selbstbestimmt Wohnen im Rollstuhl“. Ich beziehe mich dabei auf den Diskurs der Behinderung und die Instrumente mit denen Selbstbestimmung bestimmt wird.

Passend erschienen mir die Perspektiven des Philosophen & Strukturtheoretikers Michel Foucault, der mit seinen Theorien über Macht und Disziplinierung den Diskurs der Behinderung prägt.

Er entwickelte den Begriff der Gouvernementalität, welcher soziale Kontroll- und Disziplinierungspraktiken von Behinderung offenlegt und aufzeigt wie diese Praktiken sich auf mehreren Ebenen, wie z.B. im Hilfe- und Rechtsystem reproduzieren. Er legt den Fokus auf Machtmechanismen der Disziplinierung seitens der Institutionen und des Staates.4 Es handelt sich um Techniken, die es gestatten Macht auszuüben und das Verhalten der Menschen steuert.“5 Diese Disziplinierungen machen „den Körper umso gefügiger, je nützlicher er ist, und umgekehrt“. Krankenhäuser oder Wohnheime werden als Orte gouvernementaler Regierungstechniken identifiziert, in denen die darin versorgten Subjekte umfassend überwacht und reguliert und somit letztlich verwaltet werden.6

Am Beispiel des Wohnens in stationären (Groß-)Einrichtungen wird gezeigt, inwiefern sich in diesem Kontext Behinderungspraxen vollziehen, die Personen als ‚behindert‘ hervorbringen und letztlich zu einer bürokratischen Überformung aller Subjekte, die in der Wohneinrichtung handeln (BewohnerInnen ebenso wie MitarbeiterInnen), führen.7

Abb. 2 – „Das Grindelwohnprojekt“ in der Oberstr. 18 a, 20144 Hamburg.

Dazu stelle ich das Hamburger „Grindelwohnprojekt“ vor. Eine Wohneinrichtung für Menschen im Rollstuhl, die sich durch eine hohe Selbstständigkeit seitens der BewohnerInnen auszeichnet.

In zwei Wohnkomplexen (sog. Grindelhochhäuser, siehe Abb.2), jeweils im ersten Stock, leben seit 2005 BewohnerInnen, allein oder auch in Wohngemeinschaften. 

Ich führte verschiedene Interviews mit Bewohnern und deren Assistenten rund um Themen wie Alltag und Versorgungsablauf, um einen Einblick über die einhergehenden Hürden, um Selbstbestimmung zu erlangen.


2. Behinderung & Selbstbestimmung  

Der Begriff der Behinderung durchlebt seit jeher einen starken gesellschaftlichen Wandel. Jahrhunderte lang wurden behinderte Menschen als „soziale Probleme“ verstanden, so wurde bspw. im Jahr 2002 mit dem Bundesgleichstellungsgesetz (BGG) eine neue Richtung eingeschlagen:

 „Ziel dieses Gesetzes ist es, die Benachteiligung von behinderten Menschen zu beseitigen und zu verhindern sowie die gleichberechtigte Teilhabe (…) in der Gesellschaft zu gewährleisten und ihnen eine selbstbestimmte Lebensführung zu ermöglichen.“8

Es vollzieht sich der Trend weg von der allgemeinen Kategorie Behinderung hin zu einer Individualisierung von Lebensläufen9, mit individualisierten Lebenschancen und Entscheidungen.

Die immer wieder veränderte und überarbeitete Sichtweise auf die Kategorie Behinderung ist einer der zentralen Bezugspunkte in der Diskussion um Selbstbestimmung. Da diese Zuschreibungen die Individuen kategorisieren und ihnen damit einen bestimmten Handlungsrahmen für ihre Lebensgestaltung und der einhergehenden Selbstbestimmung geben.

„Menschen »sind« nicht zwangsläufig aufgrund ihrer gesundheitlichen Beeinträchtigungen »behindert«, sondern sie »werden«, indem Barrieren gegen ihre Partizipation errichtet werden, im sozialen System und durch das soziale System »zu Behinderten gemacht«.“10

Foucault sieht Behinderung vielmehr als Begriff und Konzept, der sich in einem jahrhundertealten, von Machtverhältnissen durchdrungenen Prozess entfaltet hat. Behinderung ist nicht das Ergebnis medizinischer Pathologie, sondern Produkt sozialer Ausschließungs- und Unterdrückungsmechanismen.11

Das BGG ist ein (Macht)Instrument der Bundesregierung, „um Behinderung und Krankheit technisch zu erfassen und in Abgrenzung zu Gesundheit zu stellen.“12

Durch verschiede Gesetzestexte und Handlungsgstrategien wird ein einheitliches Bild für die Gruppe der Behinderten erstellt. Diese kategorisieren ihn, um diverse Rechte zu garantieren und gesellschaftliche Regeln aufzustellen. Die Kategorie der Behinderung wird dabei am Subjekt festgemacht und aus diesem Status ergibt sich die Dichotomie „Behindert“ und „Nicht-Behindert“.

Integration funktioniert über die Vergabe von Schutzrechten und sozialen Leistungen durch die Solidargemeinschaft; sie weist zugleich einen festen Status, eine Rolle – die des Behinderten zu, und impliziert Verhaltenserwartungen, an die sich der Einzelne anzupassen hat.“13

Allerdings berücksichtigen diese Verallgemeinerungen der Kategorie Behinderung oft nicht die individuellen Bedürfnisse.

Vor allem die Rehabilitationswissenschaften, wie Medizin, Pädagogik, Humangenetik, Psychologie und Psychiatrie beeinflussen und begrenzen den Diskurs. Ihre Erkenntnisse zielen meist auf Vorsorge, Behandlung und Genesung von gesundheitlichen Beeinträchtigungen oder Störungen. Genauer gesagt auf die (Wieder-)Herstellung von Gesundheit und Normalität. Sie erzeugen konkrete Gegenstände, die sich in der sozialen Praxis materialisieren, die eine Eigenlogik und eigene Wirklichkeit entfalten.

Mit ihrer Macht konstruieren sie den „behinderten Menschen“. Genauer gesagt ist „Behinderung“14 eine Machtstruktur, die auf Subjektivierungspraktiken beruht, wie auf Rehabilitationswissenschaften und die gleichzeitig auf sozialrechtliche Regeln, wie bspw. auf das BGG zurückgreifen kann. 


3. Forschungsphase

3.1. Konfliktfeld Behinderung & Selbstbestimmung

Für mehr Selbstbestimmung vollzieht sich der Trend hin zu einer „Individualisierung“ von der Kategorie Behinderung.
Allerdings kann auch diese geforderte „Individualisierung“ nicht nur Chancen bergen.

„Der Preis gesellschaftlicher Freisetzungsprozesse ist ein erhöhtes Risiko des Misslingens, aber auch die erhöhte Chance zu selbstbestimmten Lebensentwürfen.“15

Wenn nun, Selbstbestimmung rechtlich gewährleistet wird, ist das Individuum im Zugzwang selbständig zu handeln. Oft ohne praktische Unterstützung oder Wissen. Die Institutionen stehen oft nur theoretisch zur Seite, wie mir auch meine Interviewpartner bestätigen:

„[…] Theoretisch. Hat man mir da nicht weitergeholfen. Was die mir da alles geraten haben, ging alles nicht, wollt alles nicht, keine Lust. Da muss man sich selbst drum kümmern, wenn man kann. […]“16

Ein wichtiger Punkt in Bezug auf die Selbstbestimmung kann das Versorgungssystem Krankenhaus darstellen. Der Aufenthalt darf nicht länger beansprucht werden, als das Krankenhaus vorgibt. Man hat nicht die Wahl in welches Krankenhaus man kommt, doch dieses ist maßgeblich für die weitere Versorgung verantwortlich. Das Krankenhaus wird hier als Ort gouvernementaler Regierungstechniken identifiziert.

„[…] Das wurde sogar schon alles vom Krankenhaus abgeklärt und organisiert. […]“17

Foucault zeigt auf, wie sich Disziplinartechniken in Krankenhaus und Heimen des menschlichen Körpers bemächtigen, um gefügsame, gelehrige, normierte Körper zu schaffen, die vor allem eines sein sollen: produktiv, effektiv und effizient.18 Laut Foucault sind behinderte Körper vor allem „disziplinierte und normierte Körper“. Sie sind Regimen der Überwachung, Normierung und Normalisierung ausgesetzt: Mit chirurgischen Eingriffen, Prothesen und Implantaten werden sie korrigiert und „normal gemacht“; Rehabilitationstechniken sorgen für die möglichst reibungslose Eingliederung in Kommunikations-, Konsumtions- und Produktionsabläufe, kurz, für die Anpassung an eine „nichtbehinderte“ Ordnung.19

[…]Die Weiterversorgung hat schon (…) Ich denke schon viel mit dem Krankenhaus (…) wie fit sie in diesem Bereich sind (…). Ich war ja jetzt in Boberg, Berufsgenossenschaftliche Krankenhaus und da zählen sie schon sehr auf die Eigenständigkeit. Das liegt schon eher daran, aber dann auch an dem eigenen Willen der Patienten, auch und wie die sich informieren. Aber ältere Leute kann ich mir schon vorstellen, dass die schneller in Pflegeheimen gesteckt werden. […]“20

Viele PatientInnen sind psychisch instabil oder traumatisiert. Was ist, wenn eine Person den eigenen Willen später wiederfindet als die andere? Individuelle Genesungsprozesse ( v.a. psychisch) und Entscheidungsprozesse werden nicht anständig berücksichtigt. Sie sollten die benötigte Zeit und Hilfe bekommen, um sich im Anschluss des Krankenhausaufenthalts für eine angemessene individuelle Unterbringung zu entscheiden.

„[…] Wenn man halt vom Krankenhaus keine Informationen bekommt, muss man sich selbst informieren. Rein rechtlich gesehen besteht ja die Chance auf ein selbstständiges Leben. […]“21

Um auf Foucault zurückzukommen, erfüllen Institutionen die Funktion das Individuum schnellstmöglich zu reparieren und wieder ins System einzugliedern. Dabei gibt es auch hier individuelle Wege repariert zu werden. Auch hier gilt, wer besser finanziell aufgestellt ist, wird besser versorgt.

„[…] was aber auch den großen Unterschied macht, ist ob man Kassenpatient ist oder eben den Unfall bei der Arbeit hatte und dann eben Kostenträger die Berufsgenossenschaft ist, weil die Berufsgenossenschaft deutlich leichter Hilfsmittel versorgt und auch mehr Hilfsmittel, die von der Krankenkasse eher nicht getragen werden, dass ist da schon deutlich einfacher. […]“22

Es gibt hohes Konfliktpotenzial zwischen dem Individuum und den Kostenträgern. Besonders die Institution Krankenkasse, besitzt Macht und steuert das Individuum zu ihren Gunsten. Es gibt viele Hürden auf dem Weg in ein selbstbestimmtes Leben. Es gibt z.B. die sogenannten „Anträge auf Kostenübernahme“, welche die Personen stellen müssen, um bestimmte Leistungen zu beziehen.

 „[…] Also da muss man oft sich durchklagen. Meistens lehnen die Krankenkassen im Voraus ab, die Anträge, was man als Hilfsmittel beantragt. Also das ist notorisch. […]“ 23

„[…] es gibt ja Leute genug, die nicht mehr die Power haben, gerade wenn du so eine Krankheit gehabt hast, oder runter bist, magst du nicht mehr streiten. Du magst es nicht. Geht nicht. Es kommt nichts. Und das ist das dann wovon die Krankenkassen dann profitieren. […]“24


3.2. Konfliktfeld selbstbestimmtes Wohnen mit Rollstuhl

Da das Wohnen ein elementares Grundbedürfnis darstellt und das dabei Menschen mit Behinderung keine Ausnahme bilden, wird u.a. in der UN-Behindertenkonvention festgehalten. Sie hat dabei eine rechtsverbindliche Vorgabe und es wird für Menschen mit Behinderung die grundsätzliche Gleichberechtigung für den Lebensbereich Wohnen anerkannt.25

Eine Grundvoraussetzung (primäre Funktion) für ein selbstbestimmtes Wohnen sind Fragen wie:

– Wird ein Einzelzimmer bewohnt? Lässt sich dieses abschließen?
– Ist persönlicher Besitz möglich? Lässt sich der Wohnraum selbst gestalten?
– Besteht Wahlfreiheit bezüglich der Nahrungsaufnahme oder der Hygiene?
– Ist das Empfangen von Besuch eingeschränkt?
– Herrschen eingeschränkte Mobilitätsbedingungen vor?26

Dazu kommen dann noch ganz subjektive Vorstellungen und Bedürfnisse. Lebensqualität geht mit Wohnen einher. Der Begriff der Lebensqualität umfasst zum einen, einen Standard für allgemeine menschenwürdige Lebensbedingungen und zum anderen beinhaltet er subjektbezogene Interessen und Wertezuschreibungen.

Die Verbindung zwischen Wohn- und Lebensverhältnisse und der Befriedigung subjektiver Bedürfnisse fasst das Konzept der Lebensqualität zusammen:

– physisches und materielles Wohlbefinden
– emotionales Wohlbefinden
– persönliche Entwicklung
– Selbstbestimmung
– zwischenmenschliche Beziehungen
– soziale Inklusion27

Es ergibt sich hier ein Verhältnis zwischen den Primärfunktionen des Wohnens, dem Lebensqualitätsansatz und den Richtlinien aus der UN-Behindertenrechtskonvention.28

Die explizite Gleichstellung von Menschen mit und ohne Behinderung im Rahmen der UN-Behindertenrechtskonvention zeugt gleichzeitig von einer tatsächlich vorherrschenden Ungleichheit bezüglich der gegebenen Wohnverhältnisse. Denn es ist unbequem, jedoch notwendig, da nicht als selbstverständlich vorausgesetzt – immer wieder betonen zu müssen, dass die Aneignung von Wohnraum auch für Menschen mit Behinderung gilt. Es bestehen also für Menschen mit Behinderung Diskursteilhabebarrieren hinsichtlich ihrer Aneignungsmöglichkeiten von Wohnraum.29 Wie mit Foucault aufgezeigt, wird hier das Subjekt durch Disziplinartechniken (Gestztestexte) unterworfen.

Durch Regierungstechniken (staatliche Vorgaben), wie Ausgestaltung der Wohnungseinrichtungen, werden Einrichtungen für behinderte Menschen zu spezifischen Versorgungseinrichtungen. Diese wiederum wirken, geleitet durch interne und externe planvolle Vorgaben, auf die zu betreuenden Subjekte und bringen diese in einer spezifischen Weise (mit) hervor.30

Wenn wir nun von einer rechtlichen Gleichstellung ausgehen, warum erfolgt die mehrheitliche Unterbringung behinderter Menschen im bundesdeutschen Raum immer noch in (Groß-)Einrichtungen, wie Wohnstätten oder den sog. Komplexeinrichtungen mit bis zu 500 Plätzen?31

 „[…]es kam ja auch schon vor, diese Initiative wo Rollstuhlfahrer aller Art in Altenheime gesteckt werden sollten, was halt eine Zumutung ist. […]32

Diese bevorzugte Form der Unterbringung liegt zum einem an den leider teilweise immer noch mangelhaften und veralteten Perspektiven wie „Menschen mit schweren Beeinträchtigungen gehören demnach ins Heim.“33 Selbst wenn das finanzielle Kapital vorhanden ist, werden oft Spezialinstitutionen bevorzugt. Zum einem hat die kulturelle Funktion der Familie an Bedeutung verloren. Das gegenseitige Versorgen und Pflegen innerhalb der Familie ist nicht mehr in dem Maße vorzufinden bzw. kann sie so nicht mehr geleistet werden. Eine Institution bringt Entlastung, Wissen und Techniken für eine professionelle Versorgung. Zum anderen mangelt es an (finanziellen) Unterstützungsangeboten.

Video: Frontal 21 (ZDF) – Im Stich gelassen – Zu wenig Geld für häusliche Pflege34

Es herrscht demnach ein Mangel an alternativen Wohnangeboten, sodass Menschen mit Behinderung kaum eine andere Möglichkeit als der Weg in die Institution bleibt.36

 „[…]Also diese Art der Unterbringung ist eben die zweitbilligste („Grindelwohnprojekt“). Billigste ist Heim, das ist irgendwo in Sasel draußen und ja da wäre ich sonst hingekommen. […]“37


3.3. Konfliktfeld Großeinrichtungen vs. „Grindelwohnprojekt“

Großeinrichtungen bergen viele Problembereiche in Bezug auf die Selbstbestimmung. Die zugesicherte Gleichberechtigung in der UN-Behindertenkonvention kann so nicht erreicht werden. Dem gegenüberstellen möchte ich das „Grindelwohnprojekt“, aufgrund des individuellen Unterstützungsangebots und den Wohnungsgegebenheiten erscheint mir das „Grindelwohnprojekt“ als ein positives Gegenstück einer Großeinrichtung.

„[…]Es wird ja hier das „Grindelprojekt“ genannt und in dem Sinne, dass der ambulante Pflegedienst mit im Haus ist, gibt es glaube ich nicht wirklich groß mehr. Wenn dann halt nur noch so Wohngruppen. Wo dann die Assistenz auch von Studenten, die dann mit wohnen übernommen, so was gibt es, glaube ich (…). Aber so wie hier so, ist es glaube ich einzigartig. […]“38

„[…] Man wohnt da halt selbstständig und wird nicht irgendwo reingedrängt oder reingequetscht und kriegt den ganzen Tagesablauf halbsweg vorgesetzt (…) und Sachen auf bestimmte Zeit zu ändern.“ […]“39

Institutionelle Großeinrichtungen bergen im allgemeinen Probleme mit der institutionellen Struktur. Es herrscht intersoziale Unbeständigkeit durch Personalwechsel, Elemente der Fremdbestimmung durch strukturellen Zwang, bspw. in Form mangelnder Möglichkeiten zur Mitbestimmung (etwa bei der Auswahl neuer MitbewohnerInnen) und ganz allgemein die soziale Abhängigkeit. Des Weiteren bergen diese Institutionen vor allem Probleme mit der sozial-kommunikativen, gesellschaftlichen Position (bspw. Stigmatisierung).40 Besonders hervorzuheben ist dabei der allgegenwärtige Pflegekräftemangel, ohne auf ihn detailliert einzugehen. Er fördert den schon bestehenden fremdbestimmenden Umgang. Es geht um Themen wie Verletzung der Intimsphäre, Zeitmangel, was wiederum zu einem mangelnden Verständnis oder falschem Umgang führt.

„[…] Da ist halt irgendwie ständig Not am Mann. Also ständig an sich zu wenig Leute im Pflegedienst. (…) Oftmals auch das sie immer mal wieder einspringen müssen (…) obwohl sie ja gerade viele Tage am Stück gearbeitet haben. […]“41

Im „Grindelwohnprojekt“ setzt sich diese Fremdbestimmung wie folgt zusammen:„[…] Der Betreuer ist vom Amt eingesetzt. Ist ein Vormund eigentlich. Der Assistent assistiert und das Pflegepersonal übernimmt Pflegetätigkeiten, die der Assistent, wenn er keine Pflegeausbildung hat, nicht übernehmen darf. Und auch Medikamente stellen etc. Die normalen Krankenpflegekräfte sind eingewiesene Leute. Nichts gelernt, gar nichts. Haben einen Job (..) bei mir an der Person einzeln.“ […]“42

Im Laufe meiner Forschung hat sich die wichtige Funktion der Assistenz herausgestellt. Diese Personen (AssistentInnen) sind im großen Maß an der Selbstbestimmung und Lebensqualität beteiligt. Die BewohnerInnen und AssistentInnen verbringen ca. 8 Stunden, oder auch länger zusammen. Es gibt eine Kennlern- oder Probephase, sodass sich die BewohnerInnen für oder gegen eine Zusammenarbeit entscheiden können.43

Den genauen Aufgabenbereich beschrieb mein Interviewpartner wie folgt:

„[…] Der Aufgabenbereich ist alles, was der Klient gerne machen möchte, was halt im Rahmen des Möglichen ist und nicht Bestandteil der Pflege ist (…) Hauswirtschaft, Freizeitermöglichung. Man sorgt dafür, dass der Klient mobil ist.[…]“44

Auch die zwischenmenschlichen Interaktionen spielen eine wichtige Rolle. Die Assistenz muss die Balance zwischen Nähe und Distanz wahren und dabei die Würde der BewohnerInnen stets beachten:

„[…] Also die Würde des Klienten muss halt immer gewahrt sein. Das fängt ja schon an, wenn jetzt demjenigen einen Latz anlegst beim Essen, ob er das jetzt Kleckerschutz nennen möchte, oder eben, als was ihn halt irgendwo seine Würde nimmt würde ich sagen. […]“45

Wie ich mehrfach beobachten konnte, entwickelten sich über das berufliche Verhältnis hinaus, Freundschaften zwischen den beiden Parteien. Beide Parteien haben individuelle Sichtweisen auf den Begriff Behinderung und den Umgang miteinander. […]Also, wenn jetzt so eine Situation passiert, wo ich sage: „Mensch das ist ja aber voll behindert“. Dann ist es besser drüber zu lachen oder erst gar nicht zu thematisieren, als zu sagen: „oh Entschuldigung das ich jetzt „behindert“ als synonym für schlecht benutzt habe. […]“46

„[…] Rollifahrer. Also ob das jetzt politisch korrekt ist, weiß ich nicht. Musst du jetzt sagen“. [Y. zu J.]47„Naja der Klient muss damit immer einverstanden sein.[…]“48

Durch diesen lockeren Umgang zwischen AssitentInnen und BewohnerInnen kommen wir wieder auf Foucault zurück, der genau dies bestätigt, nämlich, dass der Diskurs die Behinderten und die Anderen überhaupt erst formt und bestimmt.

Die Qualität der Betreuung hängt auch mit den äußerlichen Gegebenheiten der Institution ab, wie z.B. Größe und Schnitt der Wohnungen, sowie anderen Räumlichkeiten, die Anzahl und Struktur des Personals, sowie der BewohnerInnen. Allein die Wohnformgröße, gemessen an der Zahl der BewohnerInnen, beinhaltet demnach schon eine gewisse Aussagekraft über die jeweiligen Wohnbedingungen und gleichbedeutend über die Gegebenheit funktionaler Aspekte des Wohnens. Auch spielt die Pflege von Kontakten und Kommunikation im Wohnbereich eine Rolle. In Großeinrichtungen kann es zu Problemen mit BewohnerInnen kommen. Mein erster Interviewpartner lebt auf Wunsch allein in seiner Wohnung. Der zweite Interviewpartner lebt wiederum in einer Wohngemeinschaft. Nach einem kurzen Kennenlernen zwischen den MitbewohnerInnen, entschloss er sich dort einzuziehen. Für ihn gibt es Vorteile, in dem Sinne, dass mehr Kommunikation und Interaktion in seinem Zuhause stattfindet.

Die meisten Einrichtungen liegen am Stadtrand, demnach mangelt es an Infrastruktur und Verkehrsanbindung.49 Das Wohnprojekt liegt wiederum im Zentrum von Hamburg (Schlump) und bietet verschiedene Wohnmöglichkeiten.

„[…] „Hier ist eben besonders, dass alle eigene Wohnungen haben und individuell leben können, aber trotzdem vor Ort ein ambulanter Pflegedienst ist. (…) Was auch für die Lebensqualität spricht. […]“51

In Hinblick auf Lebensqualität versicherten mir die Bewohner, dass das Wohnprojekt, einer perfekte Versorgung nahe kommt: 

„[…] Ja kommt schon nah. Perfekt wäre es, dann schon über 24 Std. Assistenz, um die komplette Freiheit im Leben zu haben. Und nicht gebunden an Freunde, (..), sondern auch die Individualität zu haben, dass ich dann und dann los möchte über meine Assistenten, die mir dann helfen. […]“ 52

In meinen Interviews verfestigte sich der Gedanke, dass privates Wohnen für Rollstuhlfahrer, einer Gleichstellung am nächsten kommen kann. Allerdings gibt es auch sichtbare klare Unterschiede im Vergleich mit Nichtbehinderten. Sie sind auf Personal angewiesen und müssen sich mit ihm arrangieren. Die Wohnung muss den körperlichen Bedürfnissen angepasst werden. Hier sind die Funktion und Anordnung der Wohnung wichtiger als der Wohlfühlaspekt. Nicht zu unterschätzen ist der finanzielle Aspekt. Privatwohnen können sich nur die wenigsten leisten.

„[…] (…) da die Assistenten 24 Stunden da sind, oder in Schichtdienst. Schon besser dann für die Assistenten einen Rückzugsort zu haben. Ich habe das selbst auch schon mal überlegt, ob ich das dann auch beziehen könnte, aber mit meiner Wohnungssitutation schlecht umzusetzen. Mit einem Raum und 24 Stunden sind da auch schlecht, weil ich auch nachts jemanden brauche, der mich ab und zu mal dreht und so. […]“53

Auch der Bewohner Hubert W. und sein Assistent bestätigen mir das Privatwohnen selten möglich ist.

„[…] Das ist nicht bezahlbar. Schwierig. […]“54

„[…] Ja das ist nicht für alle bezahlbar aber für einige.[…]“55


Fazit

Es wird Macht ausgeübt durch verschiedenste Dizipilnartechniken seitens der Politik und Institutionen wie das Krankenhaus, (Groß)Einrichtungen oder anderer Leistungsträger. Wir müssen ein Bewusstsein dafür haben, dass diese Macht, das Wissen über unseren Körper beschränkt und erweitert. Sie beeinflusst unsere Bilder und Erfahrungen von und mit Körpern. Wissen produziert nicht nur den Diskurs, es ermächtigt das Individuum verschiedene Entscheidungen zu treffen, die maßgeblich an die Selbstbestimmung geknüpft sind. Selbstbestimmung hat subjektive Funktionen, wie die Personalität und Entscheidungsfreiheit. Letzteres ist in ihrer Bedeutung ein zentrales anthropologisches Merkmal des Individuums, da sie eine grundlegende Voraussetzung für die Ermächtigung zur Selbstbestimmung herstellt. Die Individualität und Rationalität des Individuums bestimmen die Selbstbestimmung.56 Neben der Entscheidungsfreiheit müssen für sie bestimmte Vorrausetzungen gegeben sein, um ein selbstbestimmtes Leben mit einer Behinderung führen zu können, d.h. wir müssen realistisch sein und von der Annahme ausgehen, dass eine Gleichstellung gar nicht möglich ist. Es gibt unterschiedliche geistige, psychische und körperliche Behinderungen, die den einzelnen Menschen beträchtlich einschränken, wo trotz größtmöglicher Selbstbestimmung ein Stück Fremdbestimmung unumgänglich ist. Es ist also realistisch und ehrlich, Unterschiede anzuerkennen.

Auch im „Grindelprojekt“ zeigt sich, dass trotz einer guten institutionellen Struktur, die Selbstbestimmung auch hier nicht voll durchgesetzt werden kann. Da die BewohnerInnen keine 24 Stunden-Betreuung erhalten, ist es ihnen nicht möglich, die „komplette Freiheit im Leben“ zu besitzen. Sie sind oft auf eine dritte Person (Freunde) angewiesen und können daher nur eingeschränkt am gesellschaftlichen Leben teilnehmen.

Wenn wir uns nun auf die oben aufgeführten Problembereiche institutioneller Großeinrichtungen für Menschen mit Behinderung beziehen, stellt sich heraus, dass der bereits angesprochene Aspekt der Lebensqualität (Punkt 3.1.: Konfliktfeld selbstbestimmtes Wohnen im Rollstuhl), sich als handlungsweisendes Konzept eignet, um selbstbestimmtes Wohnen durchzusetzen. Der Aspekt der Lebensqualität beinhaltet menschliche Standards allgemeiner Lebensbedingungen und individuelle Wertzuschreibungen. Es verbindet somit objektive Wohn- und Lebensverhältnisse mit der Befriedigung subjektiver Bedürfnisse.57 Der Mangel an Wohnmöglichkeiten kann mit diesem Ansatz neu gedacht werden und sollte als Ansporn verstanden werden, ein breiteres Angebot an Unterbringungen zu stellen. Denn Entscheidungsfreiheit ist nicht gegeben, wenn man keine Wahl hat.


Literatur

Forschungsrahmen

Methoden